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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Verstärkung zu verfügen, noch entschlossener und
gnadenloser zu sein. Alle Dorfbewohner, die die Flucht zu spät angetreten
hatten, sahen sich Gewalt, Demütigung und Diebstahl ausgesetzt. Mehrere Häuser
entlang der Hauptstraße waren mittlerweile von Feuern völlig zerfressen, selbst
das mächtige Gasthaus, in dem den einrückenden Truppen am stärksten Widerstand
geleistet worden war.
    Erst gegen Abend setzte
Schneefall ein. Schwere nasse Flocken sprenkelten den Himmel, rieselten in die
Flammenherde, ließen nach und nach Ruhe einkehren. Eine Ruhe des Todes und der
Vernichtung, eine Ruhe, der etwas Endgültiges anhaftete.
    Aus der sicheren
Entfernung einer Anhöhe, verborgen von einem Schleier aus Fichten und Tannen,
betrachtete Bernina die trostlose Szenerie, ohne jedoch wirklich etwas davon
aufzunehmen oder die neuerliche Kälte zu spüren. Das Ende der Welt, so fühlte
sie sich immer noch. Als könnte sie nie wieder lachen oder einen Bissen essen,
nie wieder einen vernünftigen Gedanken fassen, nie wieder zu einer Handlung
fähig sein. Erst ihre Mutter, nun auch Anselmo. Die Pfeiler ihrer Existenz, mit
dem Petersthal-Hof in deren Mitte, alles war verloren. Weder die Krähenfrau
noch Anselmo hatten ein Begräbnis erhalten, beide waren Opfer von Flammen
geworden. Berninas Leben war verbrannt, bloß noch ein Haufen Asche.
    Dass ihr das gleiche
Schicksal wie ihrer kleinen Familie erspart blieb, war ihr überhaupt nicht
bewusst, das hatte keinerlei Wichtigkeit für sie. Sie hatte nicht einmal
mitbekommen, wie sie in dem großen Giebelzimmer des Gasthauses von starken
Händen gepackt und über eine breite Schulter geworfen worden war. Wie sie,
einer leblosen Hülle gleich, vor dem Tod bewahrt wurde. Alles, was folgte,
entging ihr ebenfalls, sie nahm es einfach nicht wahr: dass sie durch Gassen
getragen wurde, in denen Männer um das nackte Leben gegeneinander kämpften, und
so schließlich den Schutz der nahen Wälder erreichte, empfangen von Baldus’
sorgenvollen Blicken. Der Gnom ging mit seinen ungelenken und doch flinken
Schritten voran zum Wagen. Unter der Plane wurde Bernina behutsam auf Decken
gebettet, dann rumpelte das Gefährt los, während in Teichdorf immer noch
Schüsse fielen und Schreie erklangen. Schlaf oder gar eine Ohnmacht hatte sich
ihrer bemächtigt, vielleicht aufgrund des Schlages, den sie während des
verzweifelten Kampfes erhalten hatte – oder wohl eher wegen des Grauens, das
ihr begegnet war, das irgendwann einfach zu viel für Bernina sein musste. So
viel Kraft hatte sie gebraucht. Und jetzt? Alles vorbei, hörte sie noch einmal
Anselmos Stimme, bevor ihr die Augen zufielen. Ja, der Schlaf. Endlich. Ohne
einen einzigen Traum, nur Schwärze, ein bleiernes Nichts. Erst ein Geräusch
lockte sie aus dieser tiefen Leere hervor, ganz langsam, ein Klopfen,
tock-tock-tock, und kurz glaubte sie sich zurückversetzt auf den Zipfner-Hof,
als nachts jener seltsame Laut eingesetzt hatte. Auch hörte sie die Stimme, die
etwas von Freund und Feind sprach, und als sich die Worte verflüchtigten, wie
von einem Wind fortgetragen, genau wie das wohl ebenfalls nur geträumte
Klopfen, war Bernina wieder wach.
    Der Planwagen rumpelte
über unwegsames Gelände, suchte einen Weg, wo es keine Wege gab, und zwängte
sich zwischen Bäumen hindurch, deren Äste immer wieder die Plane streiften. Auf
dem Bock saß Baldus, den Blick fortwährend geradeaus. Aber Bernina hörte auch
die Hufe eines Pferdes, das manchmal vorneweg, dann wieder genau neben dem
Wagen in Schrittgeschwindigkeit geritten wurde.
    Am späten Nachmittag
erreichten sie jene Anhöhe, wo sich die Bäume lichteten, tiefe, nasse Erde,
schneebefleckt, mit einem Ausblick, der bis nach Teichdorf reichte.
    Baldus war an Bernina
herangetreten, um ihr mit einem Lappen, in den ein Klumpen Schnee eingewickelt
worden war, die Schwellung an ihrem Kopf zu kühlen. Ganz vorsichtig, fast
verschüchtert, legte der Gnom den Stoff auf ihr Haar, ihren Wangenknochen.
Seine Augen waren voller Konzentration. Als sie sich flüsternd bedankte, hielt
er inne, um wieder nach draußen zu verschwinden. Bernina blieb einfach liegen,
begraben unter Decken, und ließ wehrlos den Rest des Nachmittags an sich
vorbeiziehen. Gelegentlich hörte sie Wortfetzen von außerhalb des Wagens, aber
sie versuchte nicht, deren Sinn zu ergründen. Erst später, als dieser
Schneefall einsetzte und die Nacht sich allmählich auszubreiten begann, kam
wieder Bewegung in ihre steif gewordenen

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