Die Sehnsucht der Krähentochter
Ziel?«
Baldus sah sie an und konnte seine Neugier nicht verbergen.
Sie seufzte leise.
»Eigentlich hatte ich seit dem Morgengrauen in der Frühe überhaupt kein Ziel
mehr. Ich fühlte mich wie tot. Als ich jedoch im Wagen lag … Da war plötzlich
ein Gedanke in meinem Kopf. Nämlich jetzt erst recht nicht aufzugeben. Nicht
einmal jetzt, nicht einmal nach dieser grauenhaften Nacht. Ich habe die zwei
Menschen verloren, die mein Leben bedeuteten. Ich will nicht auch noch mich
selbst verlieren.«
Aufmerksam hatte Norby
sie die ganze Zeit betrachtet. Er sagte allerdings kein Wort. So war es erneut
der Knecht, der die Frage stellte: »Was ist Ihr Ziel?«
»Ahnst du es nicht?«
Baldus’ Augen wurden
größer. »Doch nicht etwa …« Er richtete sich aus seiner hockenden Position auf.
»Doch nicht etwa ein bestimmter Ort im Norden?«
Bernina lächelte schmal,
voller Trauer. Es war ihr gerade erst in aller Endgültigkeit bewusst geworden.
Ihr Weg hatte noch nicht das Ende erreicht. Im Gegenteil, sie musste ihn weiter
beschreiten. Nicht nur für sich, sondern auch für die zwei Menschen, die
gestorben waren. Gerade für sie.
Jetzt meldete sich doch
der Schwede zu Wort: »Ihr beide sprecht in Rätseln. Was ist mit dem Ort im
Norden gemeint? Bernina, was hast du vor?«
»Es war ein Fehler, nach
Teichdorf zurückzukehren. Zumindest zuerst in das Dorf zu gehen. Es gibt ja
noch jemand anderen. Schon in Gundelfingen hatte ich unbewusst an diese
Möglichkeit gedacht – und ich hätte sie weiterverfolgen sollen.«
»Ich glaube, ich weiß
jetzt, worauf du hinauswillst«, meinte Norby. »Ich weiß nur nicht, ob mir das
gefällt.«
Bernina blickte von ihm
wieder in die Flammen. »Ja. Egidius Blum.«
»Kloster Murnau«,
entfuhr es Baldus. »Sie wollen zu Blum, um an ihm Rache zu nehmen. Aber das ist
unmöglich. Er ist ein Mann der Kirche. Er genießt großen Schutz. Das wäre
Irrsinn, das wäre …« Seine Stimme verlor sich.
»Ich will keine Rache«,
entgegnete Bernina vollkommen ruhig, »sondern Gerechtigkeit. Ich bin es mir
schuldig. Und meiner Mutter. Und jetzt auch Anselmo.«
*
Eine Nacht voller Träume. Voller Stimmen und Bilder. Geräusche, so
viele, dass sie nicht zu unterscheiden waren. Degenklingen schlugen dröhnend
laut aufeinander ein, Wölfe heulten, der Gesang einer Geige. Und der
intensivste und verwirrendste Laut: das Schreien einer Krähe. Ihr Krächzen,
zunächst noch schrill, wurde leiser, veränderte sich, hörte sich auf einmal an
wie die Stimme eines Menschen. Wie die Stimme der Krähenfrau. Dann blieb von
allem nur noch das Rauschen eines Windes, halb geträumt, halb Wirklichkeit, bis
sich das Licht des neuen Tages durchsetzte und die nächtlichen, kaum fassbaren
Traumrätsel vertrieb.
Auch der Wind löste sich
auf, die Luft war klar und kalt, nicht mehr jedoch von dieser bissigen
Eisigkeit. Ruhe lag über den Wäldern und den Gipfeln der Berge, drang ein in
das Dunkel der Täler. Eine Welt in winterlicher Leblosigkeit. Kaum vorstellbar,
dass nur ein Tag zuvor in der Nähe noch das Grauen des ewigen Krieges
geherrscht hatte. Diese friedliche Stille. Trügerisch war sie. Trügerisch schon
seit so vielen Jahren.
Langsam kämpfte sich der
Wagen voran, begleitet von dem aufrecht im Sattel sitzenden Reiter. Schon bei
einer kurzen, spärlich ausfallenden Morgenmahlzeit hatte Bernina den beiden
Männern klargemacht, dass sie keine Angst davor habe, ihren Weg allein
fortzusetzen. »Das geht nur mich etwas an. Keiner von euch muss an meiner Seite
bleiben.«
Baldus antwortete
darauf, wie schon einmal in Gundelfingen: Er setzte sich so demonstrativ auf
den Bock des Wagens, dass gar kein Zweifel an seiner Absicht bleiben konnte.
Der Schwede dagegen zeigte keinerlei Reaktion. Er beobachtete Bernina lediglich
mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen. Aber als die Zeit des Aufbruchs
kam, saß er wortlos auf und ritt vom ersten Schritt an neben dem Wagen her,
später dann voran. Manchmal fiel Berninas Blick auf seinen breiten Rücken, ohne
dass sie es eigentlich wollte. Unwillkürlich musste sie dann an das denken, was
Anselmo im Sterben gesagt hatte. Über sie und Nils Norby. Immer wieder aufs
Neue musste sie die Erinnerung an jene Momente, an diese Worte der Verzweiflung
verdrängen.
Am Nachmittag wurden sie
von einem neuerlichen Schneesturm aufgehalten, der sie dazu brachte, unter
einem Felsvorsprung Schutz zu suchen. Danach nahmen sie die mühsame, langsame
Fahrt wieder auf. Norby verschwand
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