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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Glieder. Sie streckte sich, beinahe
verblüfft darüber, dass tatsächlich noch Leben in ihr war.
    Nachdem sie noch ein
paar lange Sekunden abgewartet hatte, verließ sie den Wagen, begrüßt von
frostiger Luft und Schnee in ihrem Haar. Sie stülpte sich eine Decke über Kopf
und Schultern. Ohne den Blicken, die sich sofort auf sie richteten, offen zu
begegnen, legte sie die etwa 20 Meter zum Rand der Anhöhe zurück. Dort ließ sie
sich auf einem Felsen nieder, die Kälte einfach ignorierend, die von dem
blanken Gestein ausging. Nach einer Weile näherte sich Baldus mit zaghaftem
Schritt. In den Händen hielt er eine Holzschale mit getrocknetem Fleisch und
etwas Brot. Proviant, den sie sich im Gundelfinger Gasthaus zugelegt hatten. Er
reichte ihr die Schale, aber Bernina konnte nicht einmal den Anblick von Essen
ertragen. Kurz darauf tauchte der Gnom wieder auf, um ihr einen Becher mit
Wasser aufzudrängen. Erneut wollte sie nicht, doch er erwies sich als derart
beharrlich, dass Bernina wenigstens ein paar Schlucke zu sich nahm. Baldus
nickte ihr erfreut zu, und seine Erleichterung hatte etwas Rührendes.
    »Möchten Sie sich noch etwas
ausruhen, Frau Bernina?«, fragte er nach einer Pause.
    »Ich weiß nicht, was ich
möchte.« Sie sah vor sich hin.
    »Sie ahnen nicht, wie
leid es mir tut.«
    »Danke, Baldus.«
    »Frieren Sie nicht?«
    »Nein.«
    »Bitte denken Sie daran:
Die Nacht ist bald da.« Er holte Luft. »Wir sind doch ein ordentliches Stück
weg von den Siedlungen. Sehr einsame Gegend. Bestimmt gibt es Wölfe hier.«
    »Lass mich nur noch ein
wenig allein hier sitzen. Dann komme ich wieder zum Wagen.«
    »Wie Sie meinen, Frau
Bernina.«
    Langsam trottete er
davon, und Bernina blieb allein zurück mit dem Wind und den tanzenden
Schneeflocken, die weniger wurden. Auch die Wolken lösten sich ein wenig auf,
gaben den Blick frei zum Nachthimmel, an dem die ersten Sterne glänzten.
Flammen knisterten. Trotz der Gefahr, möglicherweise von fremden Augen entdeckt
zu werden, hatte Baldus ein Lagerfeuer entfacht. Es war einfach zu kalt
geworden.
    Völlig durchgefroren
löste sich Bernina von dem Felsen. Ein Mann saß dicht beim Feuer und starrte
gedankenverloren darauf. Baldus hingegen hielt sich bei den Pferden auf, die am
Wagen angebunden waren. Aus Säcken mit Getreide fütterte er die Zugtiere und
das Reitpferd, dessen Hufe Bernina aus dem Wageninneren immer gehört hatte.
    »Ich dachte schon, Sie
würden da hinten an dem Stein festfrieren, Frau Bernina.« Ein zaghaftes Lächeln
des Gnomen.
    »Wann ist er
aufgetaucht, Baldus?« Sie deutete zu der Gestalt am Feuer.
    »Ganz plötzlich war er
bei mir, dort, wo Sie den Wagen zurückgelassen hatten. Er wollte wissen, wohin
Sie und Ihr Mann gegangen seien. Es wirkte auf mich, als hätte er uns verfolgt,
schon längere Zeit.«
    Bernina nickte. »So war
es wohl auch.«
    »Ich erkannte ihn
sofort. Ich wusste, wer er war.« Eindringlich betonte Baldus diese Worte. »Und
so war ich misstrauisch ihm gegenüber. Jedenfalls bekam er aus mir kein Wort
heraus. Ich dachte doch, er könnte Ihnen gefährlich werden. Aber nachdem er Sie
nicht in der Nähe des Wagens entdecken konnte, kam er von allein darauf, wo Sie
steckten. Er ließ sein Pferd zurück und verschwand in Richtung Teichdorf
zwischen den Bäumen.« Der Gnom breitete die Arme aus. »Ich konnte wirklich
nicht wissen, dass er Ihnen helfen wollte. Er verriet nicht das Geringste über
seine Absichten.«
    »Schon gut, Baldus. Du
hast alles richtig gemacht.«
    Er wandte sich wieder
den Pferden zu, und Bernina ging langsam auf die Feuerstelle zu. Das Krächzen
von Vögeln erfüllte die Luft, um sofort wieder zu verklingen. Bernina spürte
die angenehm warme Welle, die von den Flammen verströmt wurde. Sie blieb
stehen, etwa zwei Schritte hinter dem Mann mit den breiten Schultern und der
einzelnen grauen Strähne im langen Haar, der weiterhin einfach nur vor sich
hinsah.
    Leise und heiser ertönte
Berninas Stimme: »So oft schon hast du mich überrascht, so oft schon bist du
völlig unerwartet aufgetaucht.« Sie räusperte sich, aber ihre Worte klangen
weiterhin rau. »Es mag sich sonderbar anhören, aber diesmal nicht – als hätte
ich es gewusst, dass du irgendwann wieder erscheinen würdest. In einem
entscheidenden Moment. Warum auch immer, ich wusste es.«
    Erst jetzt drehte er
sich zu ihr herum. Seine Augen schienen noch intensiver als sonst zu leuchten.
»Leider war ich zu spät«, bemerkte er ruhig.
    »Seit

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