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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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aber weitere Route entschieden, die um den
Wald herum zum Dorf führte. Das Prasseln ließ nach, aber hohes feuchtes Gras
behinderte Bernina noch mehr. Irgendwann gelang es ihr ganz kurz, das Gesicht
zu ihren gefesselten, von dem Seil geradeaus nach vorn gezwungenen Händen zu
führen und den schwarzen Leinenstoff von ihren Augen zu reißen. Zuerst sah sie
den grauen Himmel, das Grün der Wiesen, dann die roten Umhänge, die die
Schultern von fünf Reitern umhüllten.
    Die
Männer blickten zu ihr nach hinten, verzichteten aber darauf, ihr abermals die
Augen zu verbinden. Erneut stürzte sie ins Gras, erneut kam sie rasch auf die
Beine. Und von da an spürte sie die Anstrengung noch viel deutlicher. Ihre
Oberschenkel brannten, ihr Oberkörper schmerzte. Sie keuchte, und jeder Atemzug
durchzog heiß ihr Innerstes.
    Als der Regen endgültig
aufhörte, konnte Bernina nicht mehr. Sie ließ es zu, dass sie an dem Seil über
die Erde geschleift wurde wie ein Stück Vieh. Ihr Kleid saugte sich voll Nässe
und Schmutz. Sie schloss die Augen und versuchte, die Schmerzen zu ignorieren,
die herumliegende Steine ihr zufügten.
    Eingangs des Dorfs wurde
sie von einer starken Hand hochgerissen. Es ging weiter, jedoch nicht mehr im
Trab, sondern ganz langsam, damit die Menschen von Teichdorf zusehen konnten.
Bernina stolperte mit gesenktem Haupt hinter dem ersten der fünf Pferde her,
vier Reiter in ihrem Rücken. Noch immer war kein einziges Wort gefallen. Nichts
zu hören außer den Hufen. Aber Bernina spürte die Blicke jener Menschen, die
sie auf dem Weizenfeld noch mit so tiefer Dankbarkeit angesehen hatten.
    Dann ging sie in die
Knie, vor ihren Augen wurde es schwarz. Diesmal allerdings nicht von einem
Tuch. Abermals griffen die Hände nach ihr. Sie spürte Kopfstein unter ihren
Füßen, man zog sie in ein Gebäude, und wiederum sah sie bloß noch Schwärze. Sie
fühlte nicht mehr, wie ihre Knie nachgaben.
    Dunkelheit. Sonst gar
nichts.
    Eine
Dunkelheit, der Bernina sich irgendwann blinzelnd widersetzte. Ihre Lider waren
schwer, ihr ganzer Körper tat weh. Sie lag auf der Seite, den rechten Arm von
sich gestreckt, das Gelenk von einem Eisenring umschlossen, von dem eine Kette
zur gemauerten Wand führte. Der Geruch des Heus, das sich unter ihr befand,
kroch ihr in die Nase.
    Bernina setzte sich auf
und blickte sich um. Ein enger, fast leerer quadratischer Raum mit einer
schweren Holztür. Nur ein kleiner Tisch und ein einziges Fenster ohne Glas, ein
äußerst schmales, das eher wie eine Schießscharte wirkte. Im Rahmen hing noch
ein Rest der dünnen Tierhaut, die im Winter als Schutz gespannt worden war.
Daran erkannte Bernina schließlich, wo sie war. In einem etwa in der Dorfmitte
gelegenen Turm, den Schultheiß Kornbacher einst hatte errichten lassen und der
ansonsten für die Lagerung aller möglichen Waren genutzt wurde. Manchmal auch,
um einen Wilderer oder Dieb für ein paar Tage bei Wasser und Brot dingfest zu
machen, bevor er dann aus Teichdorf verjagt wurde.
    Mit der freien Hand
wischte sie sich das Haar aus der Stirn und fühlte Dreckklumpen, die sich darin
verfangen hatten. Ihre Augen erfassten den Schmutz, der sich tief in ihr Kleid
eingegraben hatte. An mehreren Stellen war der Stoff zerrissen. Den Gürtel mit
der großen Schnalle hatte sie verloren. Vorsichtig betastete sie ihren
schmerzenden Bauch. Sofort fiel ihr der größere spitze Stein ein, der auf
einmal unter ihr gelegen hatte, als man sie hinter dem Pferd hergeschleift
hatte.
    Die Kette rasselte
leise, als sie sich erhob. Sie spürte jeden Muskel, fühlte die Schwäche in
ihren Beinen und musste sich mit der Hand an der Wand abstützen. Durchatmen.
Der Wunsch nach Wasser breitete sich in ihrer Kehle aus, die trocken war und
brannte. Die Kette war gerade lang genug, dass Bernina sich weit genug nach
vorn beugen konnte, um aus dem Fenster zu sehen.
    Sie befand sich im
dritten und damit höchsten Stockwerk des Turmes. Über ihr gab es nur noch das
spitz zulaufende Dach, in dem manchmal Tauben nisteten. Sie wusste nicht, wer
oder was sich im ersten und zweiten Stock verbarg, nur, dass es dort zumindest
größere Fensteröffnungen gab. Kein Laut drang von unten zu ihr. Ihr Blick
wanderte über die Dächer des Dorfes bis hin zum Weidenberg, wo nichts von den
Scheiterhaufen übrig geblieben war.
    Es war wieder etwas
wärmer geworden, die Luft nicht mehr so von Nässe durchdrungen. Bernina sah
genau auf die Krone einer mächtigen alten Kastanie, die ihre

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