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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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stärksten Äste
ausbreitete wie ein Riese aus einer alten Sage seine Arme. Ein Stück weiter
geradeaus war ein Pferdestall, der sich an die Rückseite eines der größten
Teichdorfer Gebäude schmiegte: das Gasthaus. Davor wiederum, zur Straße hin,
nur ein paar Schritte vom Eingang entfernt, standen zwei grob gezimmerte Bänke
und ein Tisch. Obwohl das Holz noch ziemlich nass sein musste, hockten zwei der
spanischen Soldaten darauf. Sie tranken abwechselnd aus einer Flasche Wein und
redeten laut miteinander. Einmal pfiffen sie einer vorbeieilenden Magd hinterher.
    Angewidert beobachtete
Bernina die beiden. Auch bis zum Petersthal-Hof hatte es sich herumgesprochen,
dass die Soldaten sich dem Müßiggang hingaben. Dass sie ständig tranken und
junge Frauen mit Worten und grapschenden Händen belästigten – sogar Mädchen,
die kaum älter als zehn Jahre waren.
    Auf einmal löste sich
eine winzige Gestalt aus einer der angrenzenden Seitengassen. Offenbar hatte
sie sich schon länger dort verborgen gehalten. Eilig humpelte sie zu der
Kastanie. Dort angekommen, blickte sie am Grün des Baumes vorbei nach oben zu
Berninas Fenster. Etwas unsicher hob Baldus seine Hand zu einem Gruß.
    Bernina winkte zurück
und gab ihm dann durch eine rasche Geste zu verstehen, dass er verschwinden
sollte.
    Kann ich Ihnen helfen?,
formte sein Mund lautlos Wort für Wort.
    Sie antwortete mit einem
heftigen Kopfschütteln. »Bring dich in Sicherheit«, sagte sie ganz leise, und
sein Blick las ihre Lippenbewegungen.
    Ich
komme wieder, schienen seine Augen zu sagen, ehe er wieder in die Seitengasse
verschwand.
    Bernina
merkte nicht, wie ihre Schultern herabsanken. Noch einmal betrachtete sie das
Dorf. Doch außer den beiden Soldaten mit dem Wein war niemand zu sehen. Hilflos
setzte sie sich wieder auf das Heu. Gefesselt, über die Erde gezogen,
angekettet. Und allein. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich ihr Leben auf den
Kopf gestellt. Doch trotz der Erlebnisse, trotz der Schmerzen ließ sie es nicht
zu, dass an diesem Tag auch nur eine einzige Träne den Weg über ihre Wangen
fand. Mit dem Rücken an der Wand saß Bernina da und lauschte der Stille. Sie
ahnte bereits, dass man sie lange warten lassen würde. Dass man sie mürbe
machen wollte, bevor man auch nur einen Blick auf sie gerichtet, nur ein Wort
zu ihr gesagt hätte. Unbewusst ballte sie die Hände zu Fäusten, und diese
kleine Geste tat ihr irgendwie gut. Sich zu spüren, tat ihr gut.
    Sie erinnerte sich an
die Warnungen ihrer Mutter. Nicht die Nerven verlieren, ermahnte sie sich,
jetzt bloß nicht die Nerven verlieren.
    Es stellte sich heraus,
dass ihre Ahnung sie nicht getäuscht hatte. Niemand kam. Der Lagerturm
verharrte in seiner Stille. Von Zeit zu Zeit warf Bernina einen Blick hinaus
ins Dorf. Auch hier vor allem eines: Stille. Die Menschen waren äußerst
bestrebt, nicht aufzufallen, sich nicht unnötig auf den Straßen sehen zu
lassen, das merkte sie allzu deutlich.
    Irgendwann drangen
Lachen und Gesänge aus dem Gasthaus auf den leeren Platz davor. Früher hatte
man dort viel fahrendes Volk gesehen. Jetzt nicht mehr. Offensichtlich war es
auch weit über die Ortsgrenzen hinaus bekannt geworden, was für Menschen in
Teichdorf das Sagen hatten. Als der Abend da war, wurden die Gesänge lauter.
Wüste Schreie ertönten, Lärm schwoll an, anscheinend eine heftige Prügelei. Und
erst als aus dem großen Giebelfenster das Weinen der Geige nach draußen trieb,
wurde es langsam ruhig.
    Im Sitzen starrte
Bernina durch die Fensteröffnung in einen Himmel, der so verhangen war, dass
kaum ein Stern aufblitzte. Sie lauschte der Musik jenes Mannes, dem man bei
seiner Ankunft aus der Sänfte hatte helfen müssen. Und den seitdem niemand
außer seinen eigenen Leuten, seinem persönlichen Diener oder Leibwächter und
Pfarrer Egidius Blum mehr zu Gesicht bekommen hatte. Wie sich rasch
herumgesprochen hatte, wurden seine Mahlzeiten vor der Zimmertür abgestellt,
sodass der Diener sie nur noch hereinzuholen brauchte. Bernina fiel auf, dass
sie zum ersten Mal wirklich über ihn nachdachte.
    So schritt die Nacht
voran, ganz ruhig, ohne ein einziges Wolfsgeheul. Und nur ganz selten war das
schwache Rauschen eines verlorenen Windzugs zu hören. Bernina döste immer
wieder ein, aber sie schlief nie richtig. Als die Dunkelheit durchlässiger
wurde, war sie schon wieder hellwach. Nur mühsam kämpften sich die
Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke, die einfach nicht verschwinden wollte.
    Bernina

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