Die Sehnsucht der Krähentochter
richtete sich
auf und versuchte, ihre steif gewordenen Glieder zu lockern. Ihr Magen knurrte,
in ihrer Kehle kratzte das Verlangen nach Flüssigkeit. Ihr fiel auf, dass der
Ring um ihr Handgelenk die Haut aufgescheuert hatte. Sie schob sich näher ans
Fenster, spannte dadurch die Kette hart an und spähte nach draußen.
Bis auf zwei Bauern, die
kleinere Höfe am Dorfrand besaßen, war niemand zu entdecken. Sie kannte die
Männer vom Sehen. Die beiden stellten sich bei der Kastanie unter, um sich vor
dem gerade wieder beginnenden Regen zu schützen, der aber nur aus einem
dürftigen Nieseln bestand.
Bernina hörte, dass sie
über den Wolfsjäger sprachen, und unwillkürlich lauschte sie aufmerksamer.
»Anscheinend hat Pfarrer Blum ihn aufgefordert, noch einmal seine Dienste zur
Verfügung zu stellen«, meinte der eine gerade.
»Und er wollte nicht?«
»Nein. Er hat Blum
geantwortet, er soll seine Drecksarbeit ab jetzt selbst erledigen.«
»Das hat er gesagt?«
»Hab ich jedenfalls
gehört.« Der Mann spuckte aus. »Wenn Blum das wirklich wollte, kann das nur
eines bedeuten: In Teichdorf werden nachts bald wieder Feuer brennen.«
Bernina erstarrte. Sie
redeten tatsächlich über den Wolfsjäger – allerdings in seiner Funktion als
Henker. Die Bemerkung über die Feuer erfüllte Bernina noch voll und ganz, als
sie zwischen den Ästen und Blättern der Kastanie sehen konnte, dass die Männer
einen kurzen verstohlenen Blick zum Turm warfen.
Es geht um dich, sagte
sie sich dumpf. Du sollst brennen.
Den Bauern waren wohl
ihrerseits Berninas Blicke nicht entgangen. Sie machten sich auf, ihren Weg
trotz des Nieselregens fortzusetzen. Dennoch konnte Bernina noch etwas von dem
hören, was sie sprachen.
»Schade, dass der Kerl
weg ist. Ich meine, wegen der Wölfe.«
»Stimmt, in der kurzen
Zeit, in der er da war, hat er ziemlich viele von den Bestien erwischt.«
Die Worte verklangen.
Leise plätscherten die Tropfen auf die Blätter des Baumes und das schmale
Fenstersims. Bernina ließ sich wieder aufs Heu fallen und starrte ins Leere.
Regungslos blieb sie so sitzen, unfähig einen Muskel zu rühren, wie betäubt.
Bis plötzlich ein Schlüssel im Schloss ihrer Tür ratterte. Sie zuckte zusammen.
Dass jemand den Turm betreten und die Treppe zu ihrem Stockwerk hinauf gegangen
war, hatte sie nicht einmal bemerkt.
Die Tür sprang auf und
der Rahmen füllte sich mit einem großen kräftigen Soldaten. Seine dunklen Augen
waren ohne jegliches Gefühl, seine Hand umschloss den Griff des Degens, den er
mit einer raschen Bewegung aus der Scheide zog. Ausdünstungen von Alkohol und
Schweiß durchzogen sofort das enge Zimmer.
Der Soldat trat zur
Seite, um mit erhobener Waffe neben der Tür zu verharren und Platz zu machen
für einen zweiten Mann.
Bastschuhe und ein
einfaches, abgetragenes Gewand. Die Glatze, der Kranz kurz geschorenen Haars,
der Bart wie ein heruntergerutschter Knebel. Und diese Augen, die starr in
ihren Höhlen klebten. Dieser Blick, der sich auf Bernina legte. Vordergründig
ernsthaft und würdevoll, und doch schimmerte unter der Fassade etwas anderes.
Etwas, das immer spürbar war, wenn er sie ansah, vom ersten Tag seines
Eintreffens in Teichdorf, selbst vor den Scheiterhaufen auf dem Weidenberg,
selbst während seiner Predigt bei der Kirchenfeier.
Egidius Blum legte seine
abgewetzten, abgegriffenen Exemplare von Bibel und Katechismus auf dem kleinen
Tisch ab. Dann machte er einen Schritt auf Bernina zu.
Sie saß da und sah nach
oben, sah in seine Augen.
Ohne sich herumzudrehen,
sagte er etwas auf Spanisch zu dem Wachposten. Der Soldat schob den Degen
zurück in die Scheide.
»Fühlen Sie sich nicht
zu sicher«, sagte Bernina spöttisch. »Ich könnte die Kette aus der Wand reißen
und Sie beide überwältigen.«
»Dass Sie über ganz
besondere Kräfte verfügen, hat sich herumgesprochen.«
»Besondere Kräfte?«,
wiederholte Bernina weiterhin mit diesem spöttischen Klang.
»Ja. Genau das.« Er
blickte auf sie herab, als hätte er noch nie in seinem Leben gelacht.
Stille entstand. Von
draußen verirrte sich kein Geräusch in den Raum, als gäbe es außerhalb des
Turms nichts als totes, menschenleeres Land.
»Sie haben die Wahl«,
sagte Blum. Seine Hände lagen ineinander, eine in die andere gebettet.
»Zwischen einem einfachen und einem schweren Weg.«
»Wovon
sprechen Sie überhaupt?«, fuhr Bernina ihn ohne Respekt, mit harter Stimme an.
»Warum bin ich hierher verschleppt worden? Erklären
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