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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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ruhiger.
Soldaten suchten nicht mehr mit gezückten Waffen ihre jeweiligen Widersacher,
sondern nur noch versteckte Winkel in Häusern und Scheunen, um nach Gewalt und
Anspannung endlich Schlaf zu bekommen. Auch die Bürger ließ man endlich in
Ruhe. Wie leergefegt die Gassen, eine makellose Stille. Dünner spätsommerlicher
Dunst klebte in der Luft, die nicht mehr nach Schießpulver roch. Der Himmel
wölbte sich grau und schwer über die Dächer. Die Nachtarbeiter, die um diese
Zeit für gewöhnlich ihre Runden drehten, ließen sich nicht blicken. Niemand
ließ sich blicken.
    Bis
auf eine schlanke Gestalt, die langsam einer Gasse folgte und sich dabei im
Schutz der Häuserreihe aufhielt. Ein Hut mit Straußenfeder, ein
blutverschmierter Wams, ein mehrfach geschlungenes Halstuch, ebenfalls mit
Blutflecken, Stiefel, die etwas zu weit waren. Der Degen hing am Gürtel. In den
schmalen Händen lag groß und klobig eine Muskete.
    So
vorsichtig die Gestalt auch ihre Schritte zu setzen versuchte, nicht immer war
ein Hall der harten Absätze zu vermeiden. Sie näherte sich dem zweigeschossigen
Gebäude in der Mitte der Ortschaft. Zögernd trat sie an die Haustür und stellte
sich vor, wie Meister Schwarzmaul und Pierre am Tisch saßen, jeder den eigenen
Gedanken und Befürchtungen nachgehend. Aus einer Tasche, die an einem Riemen
über der schmalen Schulter hing, holte die Gestalt ein weißes Stoffstück
hervor, auf das sie mit Federkiel und Tinte eine kurze Botschaft geschrieben
hatte.
    Sie wusste, dass es
nicht richtig war, einfach so zu verschwinden. Aber dem Goldschmied ihr
Vorhaben in aller Offenheit mitzuteilen, das wollte sie auch nicht. Er würde
alles daran setzen, um sie aufzuhalten, das war ihr klar. Außerdem drängte die
Zeit – jedenfalls wenn das stimmte, was Irmtraud berichtet hatte.
    Ein letzter Blick auf
die Nachricht:
     
    ›Vielen Dank für alles. Eines Tages werde ich Ihnen hoffentlich
erklären können, warum ich gehen musste. Und vergessen Sie nicht, Pierre immer
gut zu behandeln.
    B.‹
     
    Das Stoffstück wurde an dem äußeren Türriegel verknotet. Trotz
ihrer Eile hielt Bernina noch einen langen Moment inne. Doch sie hatte sich
längst entschlossen. Sie würde Meister Schwarzmauls kleine Welt aus Gold und
Silber hinter sich lassen.
    Dieser Gedanke, der sie
zuvor in diesem winzigen Häuschen überfallen und sie vor dem Tod bewahrt hatte,
ließ sie einfach nicht mehr los. Dieser verwegene, unglaubliche Gedanke, der
sich auf verrückte Weise sogar noch weiterspinnen ließ und durch den sie
plötzlich wieder etwas hatte, auf das sie zusteuern konnte.
    Ein
Ziel. Endlich. So vage und fern es auch immer sein mochte. So unerreichbar es
auch immer sein mochte.
    Sie
durchquerte die kleine, in der Morgendämmerung wie tot daliegende Stadt in
nordöstlicher Richtung. Ihre Füße rutschten in den zu großen Schuhen vor und
zurück. Jeder Schritt war ungewohnt. Der Degen in der Scheide schlug fremd an
ihr Bein. Alles kam ihr fremd vor.
    Kurze
Zeit später erhob sich die Mauer vor Bernina. Sie lief den Schutzwall entlang,
der sich als nutzlos erwiesen hatte, bis sie eine Treppe erreichte. Stufe für
Stufe ging sie nach oben, bis ihr Kopf mit dem Hut über den Zinnen aufragte.
    Bei
dem Sprung ins Leere schloss sie kurz die Augen. Sie federte den Aufprall ab
und rannte los, über die Straße hinweg, die sie mit dem Eselwagen des
Goldschmiedes vor Wochen nach Braquewehr geführt hatte, und geradenwegs auf die
Wälder zu, die noch nicht vom zaghaft fließenden Licht des Tages erfasst
wurden.
    Verborgen
von Bäumen folgte sie ziemlich genau dem Verlauf der Straße, die sich bald in
den Wald hineinziehen würde. Sie fühlte ihren Herzschlag so stark, so
unmittelbar, und während sie immer weiterlief, kehrten die Bilder aus der
Hütte, in der Irmtraud den Tod gefunden hatte, zurück in ihr Bewusstsein. Dort
hatte Bernina rein instinktiv gehandelt, ohne nachzudenken. Mit den hastig
übergestreiften Kleidungsstücken des erschossenen Soldaten hatte sie sich genau
in dem Moment zu Boden geworfen, als die Männer den Raum betraten.
    Zwischen den beiden
Leichen der einheimischen Wachmänner lag sie da, steif, reglos, sie roch das
Blut, das sie sich dick ins Gesicht geschmiert hatte, sie roch den Tod. Und die
Augen geschlossen halten zu müssen, war fast mehr, als sie ertragen konnte.
    Die Soldaten
durchstöberten rasch das Zimmer und untersuchten dabei auch Irmtrauds leblosen
Körper. Nur um die drei auf dem Lehmboden

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