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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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liegenden Leichen kümmerten sie sich
kaum. Bernina hörte die Verwunderung aus ihren Stimmen. Sie wussten nicht, ob
die Frau, die ihnen aufgefallen war, durch das Fenster entkommen war, oder ob
es sich bei ihr um die Tote im Bett handelte. »Sie hat nicht den Eindruck
gemacht, als wäre sie so schwer verletzt«, sagte eine verwunderte Stimme.
»Jedenfalls nicht so, dass sie kurz darauf ihren letzten Atemzug machen würde.
Da ist doch irgendetwas faul.«
    Mit einem Gefühl der
Befreiung saugte Bernina schließlich die Luft in ihre Lungen, als die Männer
hintereinander wieder verschwanden. Sie entspannte ihre Glieder, zwang sich
allerdings dazu, zur Sicherheit noch länger liegen zu bleiben. Als sie sich
später erhob, sah sie an sich herunter. Ihre Gedanken kreisten, und sie rief
sich das in Erinnerung, was Irmtraud ihr berichtet hatte.
    Während sie sich das
Blut aus dem Gesicht wischte, fiel ihr Blick auf den Tiegel mit der Klebepaste
aus zerstoßenen Birnenkernen. Sie schmierte sich davon ein wenig unter die Nase
und auf die Kinnspitze. Dann klebte sie ein paar ihrer eigenen Haarsträhnen
daran fest. Mit den Fingern strich sie sich über ihre Wange. Da war kein
Spiegel, keine Fensterscheibe, um ihr Aussehen zu überprüfen. Unsicher griff
sie nach einer der leeren Weinflaschen. Nur ganz verschwommen schimmerte im
weißlichen Glas ein Gesicht mit Schnurrbart auf.
    Du bist vollkommen
verrückt, sagte sie sich.
    Auch jetzt noch, auf
ihrem Weg durch den Wald, hielt sie das alles für mehr als verrückt. Trotzdem
war ihr klar, dass sie diesem inneren Drang einfach nicht widerstehen konnte.
Und Irmtrauds Stimme klang noch immer in ihrem Kopf nach.
    Arme, arme Irmtraud.
    Bernina hatte das
schmale, bleiche tote Gesicht der jungen Frau noch vor Augen, als sich zwischen
den Bäumen plötzlich der Teufelsfinger aus der Erde bohrte. Sofort ging sie
langsamer. Die Muskete wog noch schwerer in ihren Händen. Die Felsnadel war nun
ganz nahe.
    Auf einmal ein Geräusch
– das Wiehern eines Pferdes, anscheinend nicht allzu weit entfernt. Bernina
duckte sich und ließ sich von ein paar wild wuchernden Sträuchern aufsaugen.
Langsam, Schritt für Schritt setzte sie ihren Weg fort. Einmal hielt sie an, um
sich das blutige Halstuch, das sie einem der toten Wachmänner abgenommen hatte,
höher in ihr Gesicht zu ziehen. Außerdem griff sie rasch in die Erde, die noch
feucht war von den letzten starken Regenfällen. Sie verdreckte sich Wangen und
Stirn. Je weniger von ihrem Gesicht zu erkennen war, desto besser. Das redete
sie sich wenigstens ein.
    Über ihr ein Surren in
der Luft. Mit kraftvollem Flügelschlag erhob sich eine Schar Krähen aus den
Bäumen. Es waren die ersten Krähen, die Bernina seit jenem verhängnisvollen Tag
auf dem Weizenfeld bei Teichdorf sah. Die Vögel zerschnitten den fahlen Himmel
und flogen in westlicher Richtung davon. Ich werde euch folgen, dachte sie.
    Der Wald lichtete sich,
das Gelände wurde abschüssig und verlor sich in einer tiefen Senke, die kaum
noch mit Bäumen bewachsen war. Bernina blieb stehen, drückte sich an den Stamm
einer Buche.
    Verteilt in der Senke –
da waren sie. Die geheimnisvollen Soldaten. Etwa 100 Mann schätzte sie,
vielleicht mehr. Jeder von ihnen beschäftigte sich mit seinem Reitpferd.
Zaumzeug und Sattelgurte wurden gestrafft, Proviantsäcke und Waffen überprüft.
In verhaltener Ruhe lief alles ab, nur hier und da ein Pferdeschnauben. Auch
eine Herde mit Ersatzpferden war zu sehen. Dann doch ein Befehl, in Berninas
Sprache, der sofort weitergegeben wurde, auch in anderen Sprachen. Eine erste
Gruppe der Männer saß auf, eine zweite ebenfalls.
    Eine Berührung. Ganz
kurz. Zwischen ihren Schulterblättern.
    Die Mündung einer Waffe,
sie wusste es sofort. Und sie erstarrte.
    »Jetzt keine dumme
Bewegung.« Leise die Stimme, aber äußerst konzentriert. »Wer bist du?«
    Bernina hob mit beiden
Händen vorsichtig die Muskete über ihren Kopf und drehte sich langsam um. Ein
Wachsoldat, der lässig eine Pistole auf sie richtete.
    Jetzt kam es darauf an.
Überall auf ihrer Haut ein Kribbeln. Sein Blick tastete sie kurz ab. Doch er
schien nicht sonderlich misstrauisch zu werden, gar nicht auf den Gedanken zu
kommen, dass ihm hier kein Mann gegenüber stand. Dennoch brachte sie es einfach
nicht fertig, ihre Stimme erklingen zu lassen.
    »Hast du deine Zunge
verloren?« Er grinste, wedelte mit der Waffe. »Na los, geh vor mir her. Mal
sehen, ob du sie nicht gleich wieder

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