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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Auge, dass keine Flagge
über den Köpfen wehte, wie es sonst üblich war. Ein Wappen war überaus wichtig,
diente es den Truppen doch im Schlachtengetümmel als Orientierungspunkt, da sie
keine einheitliche Kleidung trugen und es oft nicht einfach war, Freund von
Feind zu unterscheiden.
    Was die Fremden mit
anderen Armeen verband, waren die kunterbunten, oft in schreienden Farben
gehaltenen Wämser, die kunstvollen Spitzenkrägen und die Fußbekleidung:
gewaltige Stulpenstiefel oder derbes Schuhwerk, aus dem dicke Socken
hervorschauten. Die leichten Kettenhemden und die Harnische mit zusammenknüpfbaren
eisernen Vorder- und Rückenteilen sowie Sturmhauben und Federhüte waren Bernina
ebenfalls bestens vertraut.
    Bernina befand sich im
hintersten Teil der Kolonne. Sie saß auf einer kleinen, dürren Stute, deren
Kopf weit nach unten hing und konnte es noch immer nicht glauben: Weder ihre
Verkleidung war aufgeflogen, noch hatte man sie einfach zurückgelassen.
    Alles war so unheimlich
schnell gegangen, so rasch, dass Bernina kaum hatte folgen können. Die
Befragung durch Feldwebel Meissner, der wissen wollte, ob dieser junge Kerl mit
den schmalen Schultern schon Erfahrung habe sammeln können. Ohne ihm Antworten
zu geben, nur durch Nicken auf alles, was er fragte, bestand sie diese kuriose
Aufnahmeprüfung. Sie achtete gar nicht darauf, als der Mann mit Schnauzbart auf
die Besoldung von sechs Gulden und 40 Kreuzern zu sprechen kam. »Und dazu
alles, was du kriegen kannst«, wie er bei einem weiteren prüfenden Blick auf
ihre Muskete anfügte. Das war es auch schon.
    Wie Bernina bei
Unterhaltungen während der Rastpausen mit anhörte, war es dieser Truppe nicht
gelungen, so viele Kämpfer anzuwerben, wie man sich das erhofft hatte. Wohl
deshalb hatte der Feldwebel sie nicht einfach zurückgelassen. Hier schien jede
Waffe gebraucht zu werden.
    Unablässig achtete sie
seither darauf, keinem Blick zu begegnen und Gesprächen auszuweichen. Dabei
erwies sich der Einfall mit der vorgetäuschten Halsverletzung als hilfreich –
niemand erwartete, dass sie einen Laut von sich gab. So hielt sie die Lippen
geschlossen, und nur bei dem einen oder anderen aufmunternden Klaps auf den
Hals der müden Stute ließ sie sich zu einer kurzen Bemerkung hinreißen. Das
ausgemergelte Pferd schien Zuspruch gebrauchen zu können. Wie Bernina bemerkte,
hatte es schon einiges hinter sich gebracht: Narben von Kugeln und Klingen
hatten sich ins Fell gebrannt. Was für die meisten der anderen Tiere genauso
galt. Schlachten waren ihnen offensichtlich gleichsam vertraut wie ihren
schweigsamen Reitern. Und es gab noch etwas, das die Männer miteinander
verband, jedenfalls viele von ihnen – Berninas aufmerksamem Blick waren die
Krankheitsnarben nicht entgangen.
    In einem abgelegenen Tal
wurde das Kommando zum Halt gegeben. Hohe Gräser und wild wuchernde Sträucher,
in denen sich das leise Rauschen des Windes verfing. Es sah aus, als hätte sich
seit Ewigkeiten kein Mensch hierher verirrt. An dieser Stelle sollte die Nacht
verbracht werden.
    Wachen
wurden aufgestellt. Mit schnellen, geübten Handgriffen wurden ein paar
Holzpfähle in die Erde gerammt, über denen sich gleich darauf Zeltplanen
spannten. Jeder kümmerte sich um sein Pferd, und einige Soldaten sorgten dafür,
dass schon bald mehrere Feuer ihre Flammen dem dunkler werdenden Himmel
entgegenspuckten. Eine Gruppe von vier Mann wurde zur Jagd ausgeschickt in die
nahen Wälder, deren Eichen, Hainbuchen und Erlen sich dicht aneinander
schmiegten.
    Kreisförmig
hockten die Männer um die Feuer und um die hier nur vereinzelt stehenden Bäume.
Man plauderte leise, schnitzte, kaute an Brotstücken herum und wartete darauf,
frisches Fleisch an Spießen rösten zu können. Als Lederschläuche mit Wein von
Hand zu Hand wanderten, unterband Meissner das unverzüglich. »Haltet eure Augen
auf«, schnarrte er laut durch das Lager. »Nicht euren Schlund.«
    Hier und da wurde
gemurrt, doch nur kurz, und der Wein verschwand wieder in Satteltaschen. Einer
der Soldaten erhob sich und lehnte sich mit dem Rücken lässig an den Stamm
einer Schwarzerle. »Warum sind wir schon aufgebrochen, Feldwebel? Das ist mir
immer noch nicht klar.«
    Bernina stand bei ihrem
Pferd und fütterte es aus dem Haferbeutel, den sie beim Aufbruch erhalten
hatte. Es war ihr angenehm, immer mal wieder irgendeinen Grund zu finden, um
sich aus der Mitte der fremden Männer zurückzuziehen. Ihre Augen ruhten auf dem
Soldaten, der eben

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