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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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knallte
Bernina die Tür zu und verriegelte sie. Die Schreie der Frau wurden bis ins
Haus hineingetragen. Bernina war nur zu klar, dass sie das gleiche Schicksal
erwartete. Sie saß in der Falle.
    »Hilf mir, Pierre«,
raunte sie ihm zu und schob den Tisch vor die Tür. Zu zweit wuchteten sie den
Schrank darauf, dessen Türen aufsprangen. Ein paar Gegenstände fielen auf den
Boden, ein paar blieben darin. Unbewusst nahm Bernina Tintenfass und Federkiel,
mehrere Stofflappen und einen Tiegel mit einer Masse aus zerstoßenen
Birnenkernen wahr – eine Klebepaste, die auch in der Werkstatt von Anton
Schwarzmaul benutzt wurde.
    Ein lautes Klopfen, wohl
mit dem Lauf einer Muskete.
    »Aufmachen!«
    Bernina hörte ein
Schluchzen. Sie wirbelte herum und ihr Blick erfasste Pierre, der vor dem Bett
kniete, ein Ohr auf Irmtrauds Brust gelegt.
    Langsam stand er auf.
Hilflos sah er zu Bernina. Fast unmerklich schüttelte er den Kopf. Mit den
Fingerspitzen schloss er Irmtrauds starre, glasige Augen.
    »Lebwohl, Irmtraud«,
sagte Bernina leise.
    Die Tür wurde mit
wuchtigen Stößen bearbeitet.
    »Aufmachen! Sofort!«
    Bernina blickte zu dem
kleinen Rundfenster an der Rückwand. Für sie war es zu eng, das sah sie sofort.
    Ein Knarren erklang von
dem größeren Fenster. Die Soldaten versuchten, die angenagelten Bretter
abzureißen. Und neuerliche Stöße gegen den Eingang.
    »Wir haben dich gesehen,
Weib.« Die Stimme des Mannes war hart und laut. »Nur keine Sorge, wir werden
schon gut miteinander auskommen.« Er stieß ein widerliches Lachen aus, in das
andere einfielen.
    Bernina packte Pierre
bei den Schultern und schob ihn zu dem Rundfenster. »Los, raus mit dir!«
    Er weigerte sich,
schüttelte wild mit dem Kopf.
    »Los!«, fuhr sie ihn an.
»Raus mit dir, du passt da durch. Und dann läufst du zu Schwarzmaul.«
    Die Furcht lähmte ihn,
und so war es Bernina, die ihn fast allein mit groben Griffen durch die winzige
Öffnung nach draußen presste. »Warte bei Schwarzmaul auf mich«, sagte sie.
»Irgendwie schaffe ich es nachzukommen.«
    Das Letzte, was sie von
ihm sah, war sein Haarschopf, dann glitt er ins Freie. Sie hörte ihn rennen.
    »Die versuchen
abzuhauen!«, brüllte ein Mann.
    »War das die Frau?« Das
war wieder die Stimme von zuvor. »Wenn die uns entwischt ist, dann lasse ich
euch auspeitschen. Verflucht, schafft ihr es endlich, diese Tür aufzukriegen?
Ich will wissen, ob die Kleine noch da drin ist.«
    Das erste der Bretter am
Fenster gab splitternd nach. Auch im Holz der Tür zeigten sich Risse. Die Stöße
wurden noch gewaltvoller.
    Als die erste der beiden
Kerzen verlosch, wühlte sich eine Erinnerung tief aus Berninas Gedächtnis
hervor. Völlig verwirrt dachte sie an einen komischen Traum ihrer Mutter. Ein
Traum mit brutalen Männern und Haaren, die in Berninas Gesicht sprossen. Wieso
kommt dir dieser Unfug ausgerechnet jetzt in den Sinn?, fragte sie sich. Ihre
Gedanken spielten verrückt, während ihr verzweifelter Blick die beiden toten
Soldaten abtastete. Sie griff nach der Schere, die sie schon beim Eintreten auf
dem Boden hatte liegen sehen. Hastige Schnitte, und ihr wunderschönes Haar fiel
zu Boden, bis nur noch ein paar borstige Büschel ihren Kopf bedeckten. Fahrig
stülpte sie einige der Stofflappen über die Strähnen.
    Das zweite der Bretter
zerbarst.
    Blitzschnell riss
Bernina sich das Kleid vom Leib, um es hinter Irmtrauds leblosem Körper zu
verstecken. Mit den bluttriefenden Fetzen, die sie zum Säubern der Wunde
genutzt hatte, verschmierte sie sich das Gesicht. Sie bückte sich zu dem ersten
toten Soldaten und zog ihm die Stiefel aus. Fieberhaft zerrte sie an seiner
Pluderhose, dann an seinem Wams, auf dem das Blut eine harte Kruste bildete.
    Die Nägel des
Eisenriegels lösten sich mit einem Krachen aus Tür und Rahmen.
    »Na endlich!«, rief
jemand. »Wir sind gleich drin.«
    Ein weiterer Stoß und
sofort noch einer. Das Holz ächzte.
    Ich schaffe es nicht!,
dachte Bernina verzweifelt. Ich schaffe es nicht!

Kapitel
4 Die Armee der Unsichtbaren
     
    Für das kleine abgelegene Braquewehr war es eine lange Nacht
gewesen. Eine furchtbare Nacht. Die schlimmste seit Beginn des großen Krieges.
Versprengte Truppen gleich zweier Armeen hatten den Ort heimgesucht und jene
Schrecken in die Wohnungen getragen, die die Leute bisher nur vom Hörensagen
kannten. Blutvergießen und Terror, Plünderungen und Vergewaltigungen.
    Erst
als die Dunkelheit langsam eine traurige Blässe annahm, wurde es

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