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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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erwartet.
Natürlich wollt ihr wissen, was ihr am Ende in den Händen haltet. Ich sage
euch: nicht nur den Lohn, den Feldwebel Meissner euch zugesichert hat. Mehr als
das. Gold. Ich erwähnte es ja bereits vor euch allen. Gold.« Wiederum eine
Pause, in der Norby das zufriedene Grinsen in den Gesichtern seiner Zuhörer
betrachtete. »Der Weg zu einer bestimmten Gegend in Spanien ist noch weit, sehr
weit. Aber da wir das erste Gebirge so gut wie bezwungen haben, bin ich
zuversichtlich, dass wir noch weitaus mehr schaffen können. Und dass mehr in
euch steckt, als ihr vielleicht selbst vermutet. Gewiss habt ihr von Aufständen
in Spanien gehört, in Katalonien etwa, von blutigen Fehden, von
Schwierigkeiten, in denen der spanische König steckt. Aber deswegen ist unsere
Armee nicht unterwegs. Deswegen sind wir nicht hier.«
    »Weshalb dann?«, wagte
einer der Soldaten in die entstehende Stille zu brüllen. Es war der bärtige
Mann, der sich viele Tage zuvor ein Wortgefecht mit Meissner geliefert hatte.
    Norby lächelte kurz.
Statt einer Antwort zog er unter seinem Wams ein schillernd rotes Stoffstück
hervor. Ohne Eile begann er es auseinanderzufalten. Der Stoff schien aus Seide
zu sein.
    Eine Flagge?, fragte
sich Bernina, die dem Schweden ebenso gespannt zusah wie die übrigen.
    Er hielt sich den roten
Stoff vor die Brust. Auf dem leuchtenden Rot prangte ein Symbol, und Bernina
spürte auf einmal ihren Herzschlag ganz stark. Das Symbol war der Kopf eines
Wolfes.
    »Merkt euch dieses
Zeichen, Männer«, rief Norby. »Dieses Zeichen gilt es zu besiegen.«
    Bernina hatte sich den
Wolfskopf schon seit Langem gemerkt. Er hatte sich ihr ins Gedächtnis gebrannt,
seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte – gestickt auf einem Seidentuch, das
einem Brief beigelegt worden war. Ein Brief, den eine gewisse Isabella ihrem
Mann Anselmo geschrieben hatte.
    »Wer den Wolf besiegt«,
drang Norbys Stimme mit Verzögerung wieder in ihr Bewusstsein, »wird reich
entlohnt. Mit viel mehr Reichtum, als wenn ihr weiterhin durch die Städte des
Reiches ziehen würdet, die seit Jahren bluten. Entlohnt mit Gold! Mit viel Gold
…«
    Aufbrandende Jubelrufe
unterbrachen ihn kurz.
    »… mit mehr Gold, als in
eure Taschen passt!«
    Noch lauter der Jubel.
    »Seid ihr bereit, mit
mir eine Festung zu stürmen?«
    »Ja!«, schallte es ihm
entgegen.
    »Eine Festung, für die
man eigentlich doppelt so viele Männer bräuchte? Oder fünfmal so viele?«
    »Ja!«
    »Dann werden wir sie
stürmen«, sagte Nils Norby mit auf einmal ganz ruhiger Stimme. »Und wie wir sie
stürmen werden.«
    Hochrufe wurden
angestimmt, ausgelassen warfen viele Männer ihre Hüte in die Luft.
    »Lasst uns nicht noch
weitere Zeit verlieren«, fügte ihr Anführer unverändert ruhig hinzu. »Wir
werden erwartet. Von einem Wolf. Von einem Wolf, den es zu stellen gilt.« Und
mühelos zerriss er den Stoff der roten Flagge in Fetzen, die er vom Wind
davontragen ließ.
    Den ganzen Tag über
hielt sich die merkwürdig erregte Stimmung, die während der Ansprache in der
Luft gelegen hatte. Bernina fühlte sie so klar wie die Böen des Bergwindes, der
einfach nicht nachließ. Im Gegensatz dazu lösten sich Schnee und Regen
allmählich auf. So kam es den Männern nicht mehr ganz so kalt vor. Während sie
die Pferde einen Abhang nach dem anderen, ein Teilstück nach dem anderen
hinunterführten, sprachen sie über das, was der Hauptmann ihnen mitgeteilt
hatte. Obwohl er immer noch nicht alle Einzelheiten vor ihnen ausgebreitet
hatte, wirkte keiner der Männer missmutig. Im Gegenteil, sie alle schworen sich
ein auf das große Unbekannte, das vor ihnen lag.
    Zum ersten Mal wurden
sogar Soldatenlieder angestimmt, die hier und da in den etlichen Armeen dieses
Krieges aufgeschnappt worden waren. Zunächst in deutschen Dialekten, dann in
fremden Sprachen. Jeder einzelne wurde dazu angehalten, ein Lied vorzutragen,
und keiner konnte sich davor drücken. Nur dieser stille, unauffällige Soldat
namens Falk, der sich durch die vielen Fechtübungen, für die Meissner ihn
einspannte, gewissen Respekt erworben hatte, wurde dank seiner langwierigen
Halsverletzung davon befreit.
    Je weiter sie ihren
Abstieg fortsetzen, desto wärmer wurde es. Das Grau des Himmels blieb irgendwo
in den Höhen haften, und die ersten Sonnenstrahlen seit Tagen erreichten die
Männer. Das Land breitete sich grün und waldreich und offenbar nur von
vereinzelten kleinen Ortschaften besiedelt unter ihnen aus, doch im

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