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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Süden
wartete wohl schon der nächste Gebirgszug. Irgendwo in südöstlicher Richtung
versteckte sich das Meer, und der Gedanke daran löste ein Kitzeln in Bernina
aus. Wie gern hätte sie einmal in ihrem Leben das Meer gesehen.
    Der Untergrund wurde
weicher, die Felsen wichen Bäumen und Sträuchern. Bäche sprudelten, Obsthaine
und Felder wechselten einander ab. Die Armee tauchte ein in einen dichten Wald
und zog den ganzen Tag weiter, unterbrochen nur von der einen oder anderen
kurzen Rast. Abends wurden einige Soldaten zur Jagd ausgeschickt. Auf einer
großen Lichtung entfachte man Feuer. Das faulig gewordene Wasser wurde aus den
Trinkschläuchen geschüttet und durch neues aus einem Fluss ersetzt. Die Jäger
brachten ein paar Hasen und ein Wildschwein mit – sie wurden mit Jubel
empfangen. Es würde ein Festmahl sein! Die Stimmung stieg weiter.
    Anschließend mussten
alle in Reihe und Glied antreten. Doch an diesem Abend wandte sich nicht Nils
Norby an die Truppe, sondern Feldwebel Meissner. »Auf dem Weg hierher«, rief er
den Männern zu, »habe ich versucht, aus euch bessere Soldaten zu machen. Aus
jedem einzelnen von euch. Von jetzt an geht es darum, aus euch eine bessere
Einheit zu machen. Hauptmann Norby wird mich unterstützen, er wird uns führen,
und wir alle werden durch seine Erfahrung gewinnen. Wir werden die Ebenen
nutzen, um rascher voranzukommen und gleichzeitig das zu erlernen, was Gustav
Adolf einst seinen Soldaten beigebracht hat. Wir sind keine große Armee, aber
wir werden eine schnelle, bewegliche, für keinen Gegner berechenbare Armee
sein. Eine Armee, die siegreich ist.«
    In den folgenden Tagen
setzten Norby und Meissner diese Ankündigung in die Tat um. Nach dem Aufbruch
war man bis zum Mittag unterwegs, um dann nach einer Verschnaufpause rasch
unterschiedliche Kampfsituationen zu simulieren und das Verhalten der Truppe
als Kampfeinheit zu verbessern. Norby erklärte immer wieder, warum Gustav Adolf
vielen seiner Gegner überlegen war: »Der schwedische König«, hallte die Stimme
des Hauptmanns, »hat auf die Tercios, die nach dem Vorbild spanischer Truppen
gebildet wurden, ganz einfach verzichtet. Dadurch waren seine Einheiten weniger
schwerfällig. Er führte lockere Kampfaufstellungen ein, bewegliche
Dreierreihen. So schaffte er es, seine Widersacher immer wieder zu überraschen.
Und genau das werden wir auch.«
    Danach wurde der Weg
noch bis zum Einbruch der Dunkelheit fortgesetzt. Erst dann errichtete die
Armee ihr Lager. Die ausgelassene Stimmung war einer gespannten gewichen. Je
weiter man kam, desto näher rückte der Kampf. Desto näher rückte die Gefahr.
Selbst an den Lagerfeuern richtete sich die Aufmerksamkeit auf die
bevorstehenden Auseinandersetzungen. Man nutzte die Flammen, um mit bestimmten
Zangen Bleikugeln zu gießen. Immer öfter wurde über die Festung gerätselt, die
es laut Nils Norby eines Tages zu erstürmen galt. Über ihre Entlohnung, auch
über ihre Gegner, die unter dem Banner des Wolfskopfes kämpften.
    Bernina spürte die
Anspannung ringsum, hörte sie in jeder beiläufig hingeworfenen Bemerkung der
Männer. Sie betrachtete die Waffen eingehender als zuvor: Pistolen, Musketen,
Säbel, Degen, Dolche. Manche Soldaten führten auch einen Pallasch mit sich,
eine Waffe mit gerader einschneidiger Klinge und korbförmigem Handschutz, die
angeblich aus der Türkei stammte. Andere vertrauten auf Hellebarden und die
längeren Piken, auf Streitkolben, Morgenstern und den ähnlich aussehenden
Kriegsflegel. Wie die Männer selbst waren auch ihre Waffen ein
zusammengesetztes Abbild vieler Armeen, zahlloser Schlachterlebnisse und
unterschiedlicher Kampftaktiken.
    Kräfte zehrende Tage
waren es, doch die kleine Armee kam ohne größere Schwierigkeiten voran. Sie
mied Ansiedlungen und befestigte Straßen, folgte dem inzwischen gewohnten
Ablauf aus langsamem Ritt und Kampfübungen, ruhte in den Nächten nicht allzu
lange und verlor bei der Jagd in den wildreichen Gegenden recht wenig Zeit.
Aber selbst jetzt noch legte Feldwebel Meissner Wert darauf, den einen oder
anderen Moment der Muße auszunutzen, um Berninas Fähigkeiten mit dem Degen dank
seines geübten Auges und seines immer treffsicheren Rats weiter zu verbessern.
Noch geschmeidiger ihre Bewegungen, noch schneller ihre Klinge, die durch die
Luft stieß. Der zwischenzeitliche Verdacht, Meissner habe ihre Verkleidung
durchschaut, hatte sich längst wieder verflüchtigt. Wenn auch ihr Haar Bernina
Sorgen bereitete

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