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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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– es wuchs unglaublich schnell. An einem der zurückliegenden
Abende hatte sie die Spitzen mit der Schere, die noch aus Braquewehr stammte,
zum wiederholten Male nachschneiden müssen.
    Während es in Berninas
Heimat gewiss schon recht kühl geworden sein musste, brachte hier vor allem die
Mittagszeit noch eine angenehme Wärme, die auch von dem selten einsetzenden
Regen kaum gestört wurde. Dann jedoch zeichneten sich nahe im Süden die Umrisse
der angekündigten Berge ab, der Pyrenäen, die noch mächtiger zu sein schienen
als der zuletzt überwundene Gebirgszug. Immer wieder spähten die Männer in die
Richtung dieses Hindernisses, das ihnen die Natur in den Weg gesetzt hatte.
    Am letzten Abend, bevor
man die Berge erreichte, wurde der Befehl zum Antreten ausgegeben. Die Männer
lagerten in einem kleinen düsteren Waldstück. Norby und Meissner erschienen vor
der Truppe, im Rücken der beiden Offiziere die Gipfel, die über die Baumwipfel
ragten und scheinbar in den sich verdunkelnden Himmel stachen. Nicht der große
Schwede, sondern der Feldwebel war es, der alle auf den beim nächsten
Morgengrauen beginnenden Anstieg einstimmte. Nils Norby schwieg so lange, bis
Meissner endete und die Soldaten wegtreten lassen wollte.
    »Eine Sache noch«,
merkte der Hauptmann mit irgendwie ausdrucksloser Miene an. »Unter euch gibt es
einen Mann namens Falk.«
    Der Klang des Namens
traf Bernina mitten ins Herz. Sie schluckte so laut, das die neben ihr
stehenden Soldaten es hören mussten.
    Der Blick des Schweden
tastete die Reihen ab. »Dieser Mann soll vortreten. Jetzt!«
    »Hey!«, zischte einer
der Soldaten Bernina zu. »Worauf wartest du noch, Junge?«
    Vögel hockten auf Ästen,
und ihr Zwitschern war das einzige, was die Stille im Lager störte.
    »Falk!«, verlangte Norby
abermals nach ihr. »Ich hörte, mit deiner Stimme sei etwas nicht in Ordnung,
nicht jedoch mit deinen Ohren!«
    Bernina erhielt einen
Schubs von hinten, und schon stand sie einen Schritt vor den übrigen.
    »Na also.« Ganz kurz nur
fiel Norbys Blick auf sie. »Soldat, ich erwarte dich zu einem Gespräch unter
vier Augen. Das heißt, unter drei Augen.« Einige Soldaten lachten über den
kleinen Scherz. »Und zwar sofort!« Der Hauptmann drehte sich abrupt um und ging
auf sein Zelt zu, das nur aus einer Plane bestand, die man über fünf hohe
zugeschnitzte Holzstöcke geworfen hatte.
    Bernina beobachtete, wie
sich sein Körper ins Innere des Zeltes schob. Tief in ihr verspürte sie nur
noch den jähen Drang, einfach loszurennen und diese sonderbare Armee für immer
hinter sich zu lassen. Diese Armee und Nils Norby.
     
    *
     
    Eine Talgkerze zauberte einen Ring gelblichen Lichts an die
farblose Stoffplane, vor der sich die Gestalt des Mannes dunkel abhob. Sein
eigener Schatten schien auf ihn herabzustarren. Er hatte dem Eingang des Zeltes
den Rücken zugekehrt und hielt die Hände über dem Kreuz verschränkt.
    Zwei Schlafstellen, die
zweite für Meissner, eine Reisekiste, auf der der Kerzenstummel und ein
Zinnkrug platziert worden waren. Der Krug verströmte den vollen Geruch von
Wein. Es waren solche Einzelheiten, die Bernina wahrnahm, als sie die Plane
zurückschlug – der Blick auf Nebensächliches half ihr, die Gedanken zu ordnen,
sich besser im Griff zu haben. Mit einem vorsichtigen Schritt glitt sie nun ins
Zelt, um sogleich stehenzubleiben.
    Nie war sie sich ihrer
Verkleidung so sehr bewusst gewesen wie in diesem Moment. Der angeklebte Bart
juckte noch stärker als sonst, die Kleidung hing schwer an ihren schmalen
Schultern. Froh war sie nur über den Hut, dessen breite, von Regen und Wind
rissig gewordene Krempe ihr gesenktes Gesicht verdunkelte. Ohne ihn offen
anzusehen, war sie sich der Gegenwart Nils Norbys ganz stark bewusst. Sie
meinte sogar, das Leder seines abgewetzten Wamses riechen zu können, den er
über einem offenen hellen Leinenhemd mit ausladendem Kragen trug.
    Er drehte sich um, und
auch den Blick seines Auges spürte sie ganz deutlich.
    »Feldwebel Meissner
sagte mir«, begann der Hauptmann, »du wärst nicht nur ein verblüffend starker
Degenfechter. Er meinte auch, die Verletzung behindere deine Stimme nicht mehr
allzu stark.«
    Bernina nickte,
weiterhin mit gesenktem Haupt. Und sie fühlte sein Lächeln, ohne dass sie es
mit den eigenen Augen sehen musste.
    Von draußen hörte man
ein wenig gedämpft die Unterhaltungen der Männer, die an den Feuern saßen.
Pferde wieherten, ein Soldat hackte zusätzliches Feuerholz. Die

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