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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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zu Bernina durchzudringen, um ihr Trost zuzusprechen, ihr
Kraft zu geben. Bernina lauschte den melodiösen Tönen, die immer wieder vom
Wind hinweggefegt wurden. Und sie rief sich den Klang von Anselmos Stimme in
Erinnerung, seinen Akzent, sein Lachen. Es war für immer verloren. Oder doch
nicht? Bernina konnte ihre Augen nicht mehr geschlossen halten. Sie starrte in
das Grauschwarz der Nacht. Hier und da die Silhouette eines Felsens, sonst
nichts, überhaupt nichts. Nicht nachdenken, sagte sie sich erneut, einfach
nicht nachdenken. Einmal hörte sie einen der Wachposten fluchen. Sie selbst war
erst gegen Morgengrauen zum Wacheschieben eingeteilt, aber hier tatenlos liegen
zu müssen, kam ihr schlimmer vor. Diese Nacht. So kalt, so endlos. Derartig
hoffnungslos hatte Bernina sich seit ihrem verwegenen Aufbruch von Braquewehr
noch nie gefühlt.
    Als
sie irgendwann von einem der Soldaten mit der Stiefelspitze angestoßen wurde,
stand sie geradezu erleichtert auf. »Zeit für deine Wache«, meinte der Mann mit
einem Gähnen. Sie griff nach dem Gürtel mit dem Degen und ihrer Muskete. »Ich
bin bereit«, sagte sie flüsternd. Und im selben Moment fragte sie sich in
Gedanken: Bist du das wirklich? Bereit? Für das, was auf dich wartet? Was immer
es sein mochte.
    Der
Morgen schaffte es nicht, sich gegen dieses bleierne Grauschwarz durchzusetzen.
Kaum Tageslicht. Die Berge ebenso bedrohlich wie am Abend zuvor, ihre
Felsspitzen wie tödliche Waffen.
    Völlig
durchgefroren, schob sich Bernina am Ende ihrer Wache ein paar getrocknete
Apfelstücke zwischen ihre rissig gewordenen Lippen. Sie erinnerte sich an
Meissners Worte und fragte sich, ob sich der Feldwebel mit der Ankündigung nur
einen Scherz mit ihr erlaubt hatte. Im Lager wurde schon alles für den Aufbruch
bereit gemacht. Die Pferde standen gesattelt in einer Reihe.
    Der
Wind brachte Regentropfen mit, die sich in Schnee verwandelten. Bernina spürte
die kleinen Flocken wie Nadelstiche auf den Wangen. Während sie auf das Signal
zum Aufsitzen wartete, ertönte auf einmal der Befehl Meissners, dass sich alle
am Rand des Lagers versammeln sollten. Die Wagenfahrer erhielten den Auftrag,
auf die Pferde aufzupassen.
    Mit sichtlicher
Anspannung wurde der Anweisung Folge geleistet. Alle Blicke ruhten auf Nils
Norby, der an den angetretenen Soldaten vorüberschritt und mit Leichtigkeit auf
einen großen Felsbrocken sprang. Von dort erfasste sein Auge die Truppe, und
sofort erstarb das kaum hörbare Gemurmel der Männer. Windumpeitscht stand der
Hauptmann da, auf einer Bühne aus Stein, im Hintergrund Regen und Schnee wie
ein grauer Seidenvorhang.
    »Wenn man sich
umblickt«, rief er klar und deutlich, »dann sieht es aus, als stünde der
Weltuntergang bevor.« Er vermittelte den Eindruck, als nehme er weder Wind noch
Kälte wirklich wahr. »Und doch ist das ein Moment des Triumphs. Eures ersten
Triumphs. Ihr habt es geschafft. Höher hinaus müssen wir nicht mehr. Wir haben
eine Schneise erreicht, durch die wir heute mit dem Abstieg in südlicher
Richtung beginnen können. Noch haben wir das Gebirge nicht überwunden. Doch von
nun an werden wir besser vorankommen. Wir werden zu den Ebenen gelangen, bevor
der nächste Gebirgszug und damit die nächste Herausforderung auf uns wartet.
Aber ich habe gesehen, wie ihr diese Berge überwunden habt – das wird euch wieder
gelingen.«
    Er ließ seine Blicke von
einem zum anderen der Männer wandern, und Bernina merkte, wie sie ihr Gesicht
sofort tiefer unter das Halstuch zu schieben versuchte. Bislang war es ihr gut
gelungen, seine unmittelbare Nähe zu meiden. Bis auf den kurzen Moment, als er
so plötzlich aufgetaucht war, hatte er nie wieder das Wort an sie gerichtet.
Und abermals verscheuchte Bernina den Gedanken daran, was passieren mochte,
würde er in dem Soldaten Falk die Frau erkennen, deren Leben er in Teichdorf gerettet
hatte.
    »Sicher«,
fuhr Norby fort, »wir haben Zeit verloren. Ein paar Wochen, womöglich nur ein
paar Tage später, und das Wetter hier oben wäre noch wesentlich schlechter
gewesen – die Pässe schneebedeckt und unüberwindbar.« Ein Lächeln umspielte
seine Mundwinkel. »Jetzt aber haben wir die Aussicht, doch noch unseren Weg in
das Land zu finden, in dem fast immer Sommer ist. Allerdings sind es nicht
sommerliche Tage, was wir gewinnen wollen.«
    Er ließ eine
wohlüberlegte Pause folgen, bevor er seine Stimme wieder dem Wind
entgegenschleuderte: »Natürlich wollt ihr endlich wissen, was euch

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