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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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gepflegter und anspruchsvoller. Und trotz dieser Geschliffenheit und
all der Bildung dennoch ein Typ, der so verwegen kämpfen konnte wie der
wildeste Wikinger vor ein paar Jahrhunderten. Später wurde das Collegium
Illustre wegen der Pest geschlossen. Nur vorübergehend, wie es hieß. Doch ich
glaube, die dortigen Pforten werden sich nie wieder öffnen. Der Krieg selbst
ist längst der größte Ausbilder geworden.«
    »Und was wurde aus
Norby?«
    »Für ihn lief weiterhin
alles bestens. Er reiste und kämpfte Seite an Seite mit seinem König im Reich.
Er lernte viele Gegenden kennen. Er lernte den Krieg kennen. Und sein Name
gewann an Gewicht. Er sollte Oberst werden, und sein Weg zum General schien
klar vorgezeichnet.«
    »Aber dazu kam es
nicht«, schloss Bernina, die beobachtete, wie Nils Norby mit seinem Gefolge von
den Pferden zurückkam. Die Männer ließen sich auf Felsen nieder und schienen in
Gespräche vertieft zu sein.
    »Bei der Schlacht von
Lützen fiel Gustav Adolf. Nils Norby überlebte. Aber danach hat er nicht mehr
viel von sich Reden gemacht. Im Gegenteil, es kamen sogar Gerüchte auf, dass er
mit dem Tod seines Königs etwas zu tun hätte. Der Makel des Verräters klebte
plötzlich an ihm. Mit seiner Karriere war es vorbei. Er verschwand in der
riesigen Pulverdampfwolke des Krieges. Für viele Jahre. Manche hielten ihn
längst für tot.«
    »Wie stieß er zu Ihnen,
Feldwebel Meissner?« Bernina war sich sicher, dass der Feldwebel nichts über
Norbys Aufenthalt in Teichdorf, über seine Zeit als Henker und Wolfsjäger
wusste.
    »Die Zufälle des Lebens
haben uns aufeinander zu getrieben. Ich versuchte, eine Weile ohne den Krieg
auszukommen. Doch das war nicht so einfach. Zwar war ich ohne Armee, aber auch
ohne Einkünfte. Jemand machte mir ein merkwürdiges Angebot. Ich sollte eine
schlagkräftige Truppe zusammenstellen. Für guten Sold – und für eine Aufgabe
weit fort von meiner Heimat.«
    »Woher stammen Sie?«
    »Eigentlich aus
Karlsruhe. Aber der Krieg hat mich so lange in der Hand, dass ich mich kaum an
mein Zuhause erinnern kann.«
    »Sie nahmen also das
Angebot an.«
    »Und auch das hängt mit
unserem Anführer zusammen. Denn mir wurde eröffnet, dass der einstmals berühmte
Nils Norby das Oberkommando innehaben würde. Ich schlug ein. Weil ich nichts
anderes zu tun hatte, weil ich Geld brauchte. Und wegen Norby.«
    »Aber wer war dieser
Jemand? Wer hat Ihnen das Angebot unterbreitet?«
    »Sieh mal einer an: Du
bist ja auf einmal recht neugierig. Bisher dachte ich, in dir steckt nur Leben,
wenn du fechtest.« Meissner musterte sie mit plötzlich erwachter
Aufmerksamkeit. »Habe ich mich da getäuscht?«
    Sie wich seinem Blick
aus. »Ich wunderte mich nur, wer …«
    »Schon gut, Falk. Ist
doch klar, dass du mehr wissen willst. Das gilt für dich nicht weniger als für
die anderen. Bloß keine Sorge: Norby hat versprochen, euch mehr zu sagen, und
das wird er auch tun.«
    »Wann?« Schlicht hing
das Wort in der Luft.
    Meissner zeigte ein
Schmunzeln. »Morgen.«
    »Wirklich?« Bernina
konnte ihr Erstaunen nicht verbergen.
    »Morgen«, bekräftigte
er. »In aller Frühe.«
     
    *
     
    Wie ein schweres Tuch legte sich die Dunkelheit über das Gebirge,
dessen hart gezogene Umrisse etwas Bedrohliches und Unwirkliches ausstrahlten.
Als wäre es ein riesenhaftes, bösartiges Lebewesen, das die kleine Armee
plötzlich unter Felsbrocken, klaffenden Vorsprüngen und natürlichen Wänden aus
nacktem Stein zermalmen könnte. Diese Nacht war die bislang kälteste. Der Wind
verbiss sich in die Stoffe, in die sich die Soldaten einwickelten, und
peitschte mit immer neuen Böen auf die Truppe ein.
    Bernina zitterte unter
der Decke und dem Umhang, den sie auch tagsüber, selbst beim Fechten, über dem
ledernen Wams trug. Sie fror so sehr, dass sie nicht einmal vorübergehend von
Schlaf erlöst wurde. Ihre Gedanken jagten hin und her, und gleichzeitig zwang
sie sich dazu, nicht nachzudenken. Manchmal, wenn sie die Augen schloss und der
Wind besonders laut aufheulte, hörte sie die Stimme der Krähenfrau. Ihre Mutter
summte, ganz entspannt, so wie früher in der kleinen Hütte, in der diese
eigenwillige Frau ihr zurückgezogenes Leben gelebt hatte. Und je stärker
Bernina die Augen zupresste, desto deutlicher sah sie die Flammen der
Scheiterhaufen auf dem Weidenberg. So weit fort das alles, und doch ganz nahe.
Das Summen ihrer Mutter blieb die ganze Nacht über bei ihr, als versuche die Frau,
aus dem Jenseits

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