Die Sehnsucht der Krähentochter
Frauen.
Ich kann mich genau an den Moment erinnern: Du warst auf dem Weg zu dem Platz
vor der Kirche. In Begleitung eines schwarzhaarigen Mannes. Deines Ehemannes.«
Ohne ein Wort nickte
sie.
»Es war der Morgen des
großen Festes. Und schon da, in diesem Augenblick wusste ich, dass du über
einen Mut verfügst, den es selten gibt.« Ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen.
»Seit diesem Tag ist viel geschehen, nicht wahr, Bernina?«
Irgendwie
war es merkwürdig für sie, nach Wochen wieder den eigenen Namen zu hören. »Ja,
sehr viel.«
»Und
heute stehen wir beide uns irgendwo in diesem Niemandsland gegenüber.«
»Sag
mir bitte eines.« Bernina bemühte sich um einen wieder nüchternen Tonfall.
»Seit wann wusstest du, dass ich der Soldat Falk bin?« Sie verschränkte die
Arme vor ihrer Brust. »Meissner. Oder? Er hat etwas gemerkt, habe ich recht?«
Erneut
zeigte der Schwede sein Lächeln. »Ja und nein. Dass du eine Frau bist, also auf
diesen Gedanken ist er nicht gekommen. Du hast offenbar überzeugend
geschauspielert. Aber irgendwie wurde er nicht schlau aus dir. Er schilderte
mir, was für ein guter Fechter du geworden bist – und dass da auch noch etwas
anderes an dir ist. Etwas Ungewöhnliches. Also beobachtete ich euch hin und
wieder.« Norby schlug die Handflächen ineinander. »Und dann war es, als würde
ein Tuch von meinen Augen weggezogen. Ich konnte es nicht glauben. Deine Anmut
beim Fechten. Die Art, wie du die Erde fast nicht zu berühren scheinst. Ich sah
sofort die Bilder aus Teichdorf. Du und ich, zusammen auf der Flucht.« Weich
klangen diese Worte, weicher als alles, was er je von sich gegeben hatte.
Bernina blickte ihn an.
»Und nun? Was denkst du? Was soll mit mir passieren?«
Er schien seine nächste
Antwort gut abzuwägen. »Was können wir tun? Hier, fernab jeder Ortschaft. Fürs
Erste lassen wir alles, wie es ist. Du bist ja bislang damit durchgekommen. Und
ab morgen früh beginnt der Aufstieg. Aber wenn wir das nächste Gebirge hinter
uns haben, weiß ich ehrlich gesagt noch nicht, wie es weitergehen soll.«
»Ich möchte nur nach
Valencia. Dort hoffe ich, die Spur meines Mannes irgendwie wieder aufnehmen zu
können.«
»Meiner Meinung nach
hast du keine großen Chancen …«
»Dennoch werde ich es
versuchen«, fiel sie ihm rasch ins Wort.
Sie maßen sich mit
Blicken. Bernina sah die winzigen Fältchen in seinen Augenwinkeln und den
verschmutzten Stoff der Augenklappe, an deren Rand sich Nässe gebildet hatte.
Die Haut um die Klappe herum schien verkrustet zu sein.
»Eigentlich wollte ich
dich die ganze Zeit schon fragen, wie du dein Auge verloren hast. Aber …«
»Aber?«
»Du hast es überhaupt
nicht verloren.«
»Nein, es ist nur …
irgendwie krank. Ich weiß auch nicht.«
»Darf ich es mir
ansehen?«
»Wenn du meinst.«
Behutsam schob Bernina
die Klappe hoch auf seine Stirn. Entzündet. Rot. Ganz feucht. »Kannst du damit
noch sehen?«
»Ja, doch leider nicht
sehr gut. Alles ist verschwommen. Wind brennt wie Feuer. Und selbst wenn es
windstill ist, spüre ich immer einen Schmerz.«
Sie nickte leicht.
»Vielleicht kann ich dir helfen.«
»Du?« Erstaunen sprach
aus seinem Blick, während er das Auge wieder verdeckte.
»Lass dich überraschen.«
»Du bist zu mancher
Überraschung fähig, wie ich längst weiß.« Er ließ ein kurzes Lachen folgen.
»Wichtiger jedoch als mein Auge ist vor allem eines: Du musst dich weiterhin so
geschickt verhalten wie bisher. Ich will auf keinen Fall, dass die Männer die
Wahrheit über dich herausfinden. Gerade weil die Truppe bis jetzt einen
überraschend ordentlichen Eindruck hinterlassen und so gut wie keine
Schwierigkeiten gemacht hat. Den Kerlen würde das Blut überkochen, wenn sie
wüssten, dass du …«
»Ich werde vorsichtig
sein«, unterbrach sie ihn erneut.
»Dann sehen wir uns
morgen früh. Es warten harte Tage auf uns alle.«
Ohne ein weiteres Wort
drehte Bernina sich um. Sie fühlte seinen Blick auf sich, als sie das Zelt
durch die Plane verließ. Die meisten der Soldaten streckten sich gerade auf
ihren Schlafstellen aus. Es stand womöglich die vorerst letzte warme Nacht
bevor, doch das war es nicht, woran Bernina dachte. Ihre Gedanken waren bei dem
frechen Kuss, den Nils Norby ihr aufgezwungen, mit dem er sie überfallen hatte,
irgendwie spielerisch und doch mit Leidenschaft. Selbst wenn sie es sich nicht
recht eingestehen mochte: Einen ganz kurzen verrückten, unerklärlichen Moment
hatte sie seinen Kuss
Weitere Kostenlose Bücher