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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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erwidert. Ohne es zu wollen. Und doch hatte sie es
zugelassen. Diesen einen verrückten Moment lang.
     
    *
     
    Der Schrei des Vogels durchschnitt die dunkle Stille. Berninas
Blicke strichen über die Wipfel der Bäume hinweg. Groß, scheinbar unendlich
groß, türmte sich das Gebirge jenseits des Waldes auf. Sie vernahm schnellen
Flügelschlag und sah die Umrisse des Vogels, ein Schemen, der sich kaum von der
Schwärze der allmählich zerfallenen Nacht abhob. Eine Krähe?, fragte sie sich.
Doch der Vogel war bereits nicht mehr zu entdecken.
    Bernina atmete die Luft
ein, deren kristallene Reinheit sie in ihren Lungen zu spüren glaubte. Sie
hatte so gut wie gar nicht geschlafen und sich mit dem zaghaften Einsetzen des
Morgengrauens in das nahe gelegene, wild wuchernde Dickicht aus Sträuchern und
Büschen geschlichen. Nicht einmal die Wachen, die das Lager immerfort mit
langsamem Schritt umkreisten, hatten etwas davon bemerkt. Allein sein, endlich
einmal, wenn es auch nicht für lange sein würde – das war angenehm, sehr
angenehm. Zumal noch das Gespräch mit Nils Norby in Bernina gegenwärtig war und
seine Worte unverändert klar um sie herumschwirrten.
    Auch der Anblick seiner
Augenklappe und der Hautpartie darunter beschäftigte Bernina. In ihrem
Gedächtnis hatte sie gewühlt und gewühlt, bis sie auf eine bestimmte Erinnerung
gestoßen war. So viel hatte sie über Kräuter, Pflanzen und deren heilende
Wirkung von ihrer Mutter gelernt, und in ihr war die Hoffnung, dass dieses
Wissen, wie früher schon oft, auch diesmal von Wert sein konnte. Nachdenklich
betrachtete sie die kleine unauffällige Pflanze mit weißen Blütenblättern, die
sie gesucht und schließlich gefunden hatte. In dieser Gegend schien alles
Mögliche in geradezu verschwenderischem Ausmaß zu wachsen und zu gedeihen. Gern
hätte sie noch mehr davon gesammelt, aber womöglich reichte auch das schon. Sie
hörte, wie im Lager zum Wecken gerufen wurde, und beschloss, sich auf den
Rückweg zu machen. Es musste ja nicht unbedingt auffallen, dass sie sich
entfernt hatte. So ersparte Bernina sich neugierige Fragen. Und darauf achtete
sie sowieso die ganze Zeit: Fragen und Gespräche zu umgehen. Rasch verstaute
sie die Pflanzen noch in einer Hemdtasche unter dem Wams.
    Auf einmal ein Geräusch
– Zweige, die unter Sohlen knackten. Sie wirbelte herum. Nicht die Wachposten,
wie sie angenommen hatte.
    Ihre Blicke trafen
aufeinander. So wie am Abend zuvor im Zelt.
    »Ich habe gesehen, wie
du im Unterholz verschwunden bist«, sagte Nils Norby.
    »Du bist sehr früh auf
den Beinen.«
    »Immer.«
    »Dachtest du, ich wollte
türmen?«
    Ihr ironischer Tonfall
brachte ihn zum Lächeln. »Türmen? Bei dir wäre ich kaum auf diesen Gedanken
gekommen. Du bist jemand, der eher den Weg nach vorn sucht. Ist es nicht so?«
    »Gut möglich.« Bernina
spähte an ihm vorbei zwischen den Sträuchern hindurch. Das Lager erwachte geräuschvoll
zum Leben. Ȇbrigens, eine Sache hast du mir gestern nicht mehr gesagt. Und im
Nachhinein bin ich doch neugierig darauf.«
    »Ja?«
    »Auf unserem Weg nach
Ippenheim, da hattest du mir unbedingt etwas mitteilen wollen. Eine
Kleinigkeit. Was war das?«
    »Wirklich nur eine
Kleinigkeit.« Er nickte mit nun wieder ernster Miene. »Zum ersten Mal sahst du
mich auf dem Weidenberg, nicht wahr? In der Nacht, als die Scheiterhaufen
brannten.«
    Sie wartete, dass Norby
weiter sprach.
    »Ich war nie zuvor ein
Henker gewesen. Das war das erste Mal, dass ich mich dafür hergab. Und das
letzte Mal.« Er wich ihrem Blick aus, was ungewöhnlich für ihn war. »Wie ich
gestern schon sagte, es ist nur eine Nebensächlichkeit. Ohne Bedeutung.«
    »Es ist nicht ohne
Bedeutung«, widersprach Bernina leise. Sie erinnerte sich daran, dass er die
Leiden der Gequälten damals zumindest verkürzt hatte. »Und ich finde es gut,
dass du mir es doch noch gesagt hast. Es ist schön zu hören, dass du niemals
zuvor oder danach …«
    »Sprechen wir einfach
nicht mehr davon«, unterbrach er sie mit zurückhaltender Stimme.
    Jetzt war es Bernina,
die lächelte. »Ja, ganz wie du möchtest.«
    Eine Mischung aus
Befangenheit und Vertrautheit herrschte in diesem Augenblick zwischen ihnen,
mehr noch als am Vorabend. Ganz plötzlich wurde das Bernina bewusst. Sie senkte
den Blick und holte die Pflanzen, die sie gesammelt hatte, aus ihrer Tasche.
    »Übrigens, bei starken
Augenentzündungen«, erklärte sie, »greift man oft auf Kamille zurück.« Sie
bemühte sich,

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