Die Sehnsucht der Nacht: Erzählungen (German Edition)
Kopf eines Menschen vorging, wenn er unter Narkose stand? Wenn sie ihren Geschwistern gestünde, dass sie weniger nach der perfekten Höhle als vielmehr nach einem Mann in einer suchte, würden sie sie zweifellos zu einem Psychiater schleppen. Es war einfach unmöglich, jemandem ihr dringendes Bedürfnis zu erklären, den Mann zu finden.
Joie war beurlaubt worden, wie es so üblich war, wenn ein Personenschützer bei der Arbeit verwundet wurde. Sie war gar nicht erst in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt, aber als Gabrielle und Jubal gekommen waren, um sie zu besuchen und ihr bei der Physiotherapie zu helfen, hatte sie sie überredet, mit ihr in die Karpaten zu fahren, um Höhlen zu erforschen.
Anfangs hatte sie noch versucht, das intime Geflüster in ihrem Kopf zu ignorieren, doch irgendwann war sie dem unwiderstehlichen Reiz des Mannes erlegen. Sie hatte Unterhaltungen mit ihm geführt, manchmal alberne, manchmal philosophische, aber auch – Gott stehe ihr bei! – sexy, schon fast erotische Gespräche, von denen sie sich nicht vorstellen konnte, sie mit irgendjemand anderem zu führen. Die Stimme in ihrem Kopf war stärker geworden, seit sie in Rumänien war, als wäre sie ihm schon sehr viel näher.
Was tust du?
Die Männerstimme kam aus dem Nichts heraus, unerwartet wie immer und völlig überraschend. Sie war tief und sehr männlich, manchmal belustigt, manchmal spöttisch, jedoch stets verführerisch. Joie versuchte, sie nicht zu hören und auch nicht zu antworten. Aber sie konnte sich nicht helfen und sprach jedes Mal mit ihm. Lachte mit ihm und begehrte ihn.
Obwohl seine Stimme schön wie immer war, klang er diesmal unendlich müde und angestrengt, als hätte er Schmerzen. Diesen Ton hatte sie noch nie gehört in seiner Stimme, und er beunruhigte sie. War er verletzt? Konnte er überhaupt verletzt sein? Denn falls sie nicht verrückt war, bedeutete das, dass er real war und sie nicht ständig das Gefühl zu haben brauchte, wirklich durchgedreht zu sein. Oder im Moment vielleicht ja doch ein bisschen.
»Ach kommt, ich bin dem Eingang schon so nahe, dass ich ihn bald sehen müsste. Jubal«, appellierte Joie an ihren Bruder, »du weißt, dass ich recht habe. Ich habe immer recht. Hier ist ein Netzwerk von Höhlen, von denen die meisten sogar noch unerforscht sind, und wir befinden uns direkt darüber.«
Okay, sie war nicht nur ein bisschen verrückt. Joie war sicher, dass sie ihren Abstieg in den Wahnsinn schon begonnen hatte. Sie war lieber bei dieser Stimme in ihrem Kopf als bei irgendeinem realen Menschen auf der Welt. Sie lebte, um diese Stimme zu hören, dachte Tag und Nacht an diesen Mann, war vollkommen beherrscht von ihm.
Joie schob trotzig das Kinn vor und versuchte, eine Verbindung zu ihm herzustellen – zu diesem imaginären Freund, der auf dem besten Wege war, ein imaginärer Liebhaber zu werden.
Ich werde beweisen, dass es dich nicht gibt, damit ich über dich hinwegkommen kann. Ich habe eine ellenlange Liste von Möchtegern-Lovern und hätte zur Abwechslung ganz gern auch mal ein bisschen Spaß.
Du bist zu nah. Ich kann dich spüren. Du musst von hier verschwinden. Dieser Berg ist gefährlich.
Joie runzelte die Stirn, als sie die schneebedeckte Felswand musterte. Sie war dem verborgenen Eingang schon so nahe! Der Berg musste atmen, und wenn er den leisesten Luftzug ausstieß, würde sie den Eingang finden.
Das war ja klar, dass du das sagen würdest. Weil ich nicht wissen soll, dass du nicht real bist. Joie wandte sich nach links und ging um eine Felszunge herum. Sie konnte den Eingang jetzt schon spüren. Ihr ganzer Körper reagierte mit Aufregung und Eifer. Und es hatte nichts mit diesem Mann zu tun. Hör mal, Süßer, es hat Spaß gemacht, aber jetzt müssen wir uns trennen. Ich kann keinen erfundenen Geliebten brauchen, selbst wenn du ein fabelhafter Liebhaber in meinen Träumen bist. Eine Frau will hin und wieder auch mal was Echtes. Und es ist ja auch nicht so, als könnte ich dich meiner Familie vorstellen. Hey, Leute, das ist mein unsichtbarer Freund Traian. Er hat einen Namen wie eine Lokomotive, aber auch der ist nur meiner eigenen absurden Fantasie entsprungen.
Traian ist ein sehr alter und angesehener Name.
Ein Anflug von Belustigung schwang in seiner Stimme mit, doch sie war trotzdem noch sehr angespannt, und eine furchtbare Eile, ihn schnell zu erreichen, krampfte Joie das Herz zusammen.
Geh von hier fort, Joie! Einen Kommentar zu deinem Namen werde ich mir
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