Die Sehnsucht der Nacht: Erzählungen (German Edition)
ersparen, da er ausgesprochen rüde klingen würde.
Nur zu, Traian! Du bist nicht real, und diese Unterhaltung ist es auch nicht, also beleidige mich ruhig so viel, wie du willst.
»Du hast immer nach unten geschaut, wenn du nach oben blicken solltest, Joie«, bemerkte Gabrielle seufzend. »Vielleicht könntest du sogar eine Wolke einfangen, wenn du die Hand mal nach oben streckst. Hast du je die Blumen bemerkt? Sie sind wunderschön. Ich wünschte, ich wüsste, wie sie heißen. Denk doch ausnahmsweise mal an etwas anderes als an Höhlen!«, bat sie und deutete mit einer vielsagenden Handbewegung auf die Landschaft um sie herum. »Dies ist Dracula-Land. Wenn du deinen Höhlenfimmel mal vergessen würdest, könnten wir uns zur Abwechslung vielleicht auch mal die alten Burgen ansehen.«
Die rosafarbenen Blumen, die in der Mitte gelb sind, nennen sich Tratina. Die weißen sind Margeriten. Ich kann dir nicht aus dem Stegreif sagen, wie die blauen heißen, aber es wird mir schon noch einfallen.
Belauschst du etwa unsere Unterhaltung?
Du denkst laut – und verleugnest meine Existenz, was neuerdings eine Angewohnheit von dir zu sein scheint.
Joie zog die Nase kraus. Er war zwar nur ein Produkt ihrer Fantasie, aber er kannte die Namen der Blumen. Sie blickte sich nach ihrer Schwester um.
»Gabrielle, die pinkfarbenen Blumen sind Tratina und die weißen Margeriten. Wie die blauen heißen, weiß ich nicht.«
»Wow, du bist ja ein wandelndes Lexikon«, sagte Gabrielle beeindruckt.
»Das sollte dich lehren, mir nicht vorzuwerfen, ich hätte an nichts anderem Interesse als an Höhlen«, antwortete Joie. Sie fröstelte, obwohl sie der Kälte entsprechend angezogen war. Irgendetwas stimmte nicht an diesem Ort, und ein Teil von ihr hatte das Gefühl, als müssten sie tatsächlich schnellstens von dem Berg herunter. Prüfend blickte sie zum Himmel auf. Vielleicht nahte ja ein Sturm.
Jubal betrachtete die wilde Landschaft um sie herum und unter ihnen. Es gab hier viele tiefe Schluchten und mehrere Höhlen. Grüne Täler und Hochebenen boten eine atemberaubende Aussicht. Unter ihnen, in den Niederungen, waren durch das in die Erde eingedrungene Schmelzwasser der Berge Torfmoore entstanden. Strahlend grüne Moosflächen und zahlreiche flache Teiche schlängelten sich um Birken- und Kieferngruppen herum. Die Gegend war zauberhaft, und trotzdem fühlte sich Jubal gar nicht wohl in seiner Haut. Die Luft war frisch und kalt, aber obwohl der Himmel klar zu sein schien, bedeckte ein eigenartiger Nebel die Berge über ihnen. Hin und wieder hatte Jubal sogar das Gefühl, dass sich in dem Dunst etwas bewegte, etwas Lebendiges und Furchterregendes.
Nachdenklich blickte er zu den hoch aufragenden Gipfeln über ihnen auf. Sie befanden sich auf halbem Weg den Berg hinauf, und der Nebel schien langsam zu ihnen herabzusinken. Für den Fall, dass er sie erreichte und sie hier im Freien kampieren mussten, hatten sie die nötige Ausrüstung dabei, doch es würde eine ungemütliche Nacht werden.
»Gib es auf, Joie, und lass uns hier verschwinden!«, sagte er. »Dieser Ort ist mir unheimlich. Ich mag die Schwingungen hier nicht.«
Gabrielle wandte sich ihrem Bruder zu. »Ach, wirklich, Jubal?«, fragte sie mit hochgezogener Augenbraue. »Das ist komisch, weil ich nämlich genau das gleiche Gefühl habe – als sollten wir nicht hier sein oder als störten wir an diesem Ort irgendwie. Glaubst du, dass es die vielen Vampirgeschichten waren, die wir gestern Abend in dem Gasthof hörten, die uns so nervös gemacht haben? Normalerweise finde ich gruselige Geschichten ja ganz lustig, aber heute bin ich richtig ängstlich.« Sie erhob die Stimme, um von ihrer jüngeren Schwester gehört zu werden, die um die Felszunge herumgegangen war und einen weiteren aus dem Berg hervorstehenden Kalksteinfelsen untersuchte. »Was ist mit dir, Joie? Ist dir dieser Ort nicht auch unheimlich?«
»Wir sind hierhergekommen, um die Höhlen zu erforschen«, gab Joie entschieden zurück. »Wir sind immer sehr respektvoll im Gebirge und lassen nie etwas zurück, also besteht kein Anlass, so nervös zu sein. Die Berggötter haben keinen Grund, sich über uns zu ärgern, falls es überhaupt so etwas gibt. Ich weiß, dass hier der Eingang ist. Ich kann spüren, dass ich schon ganz in der Nähe bin.«
Aufmerksam strich sie einen langen Riss im Fels nach, bevor sie wieder um die Felszunge zurückging und über die ausgestreckten Beine ihres Bruders stieg, ohne ihm auch nur
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