Die Sehnsucht der Nacht: Erzählungen (German Edition)
Vorsicht weiterkroch. Sie benutzte die hohen Säulen aus Felsgestein und Eis als Deckung, als sie sich in eine Position brachte, von der aus sie die Kammer einsehen konnte.
Ein Mann, bei dem es sich nur um Traian handeln konnte, war buchstäblich an einer Eiswand festgepinnt wie ein Insekt, sodass seine Füße nicht einmal den Boden berührten. Blut lief von seinen Schultern und Beinen herab, durch die scharfe Holzpfähle in die Wand getrieben worden waren. Es war die schrecklichste Art von Folter, die Joie je gesehen hatte. Sie musste den Atem anhalten, um nicht vor Entsetzen aufzuschreien. Kein Wunder, dass sie die Qual, die er ausstrahlte, mitempfinden konnte! Wer war zu so etwas Abscheulichem fähig? Und dazu noch tief unter der Erde in einer Eishöhle? Es war grotesk, unwirklich und ungeheuer grausam.
Sie konnte etwas sehen, das einem Mann ähnelte – oder zumindest die Gestalt eines Mannes hatte – und mit einem knochigen Finger in Traians Wunden und dem herausströmenden Blut herumstocherte, um es dann mit einer scheußlichen dunkellila Zunge abzulecken. Ein Erschaudern durchlief Joie.
Aber sie zwang sich, die Furcht erregende Erscheinung anzusehen, die Traian gefangen hielt. Der Kerl war fast so groß wie Traian, doch sein Körper war skelettartig, als bestünde er nur aus Haut und Knochen. Seine Kleider waren schmutzig und zerlumpt, kaum mehr als dünne Fetzen eines Materials, das für die Kälte einer Eishöhle völlig ungeeignet war. Das Ding – ein anderer Namen wollte Joie dafür nicht einfallen – hatte halblanges strubbeliges Haar, das in Büscheln von seinem unförmigen Schädel abstand.
Die ganze Abartigkeit des Bösen ging von dieser Kreatur aus. Als sie sich zur Seite drehte, konnte Joie sehen, dass ihre Finger in Furcht erregend langen Nägeln endeten, die gelb und fleckig waren wie Vogelkrallen und auch genauso scharf aussahen. Joie konnte ihr wild klopfendes Herz fast nicht mehr unter Kontrolle bringen. Sie hatte mit vielen menschlichen Ungeheuern zu tun gehabt, aber das da – dieses Ding – war nicht menschlich, oder zumindest jetzt nicht mehr.
Sie wusste, dass Traian sich ihrer Gegenwart bewusst war, doch er machte nicht den Fehler, ihre Position zu verraten, indem er auch nur in ihre Richtung schaute. Er beobachtete nur mit kühlem Blick die über ihn gebeugte Kreatur.
»Du scheinst nervös zu sein, Lamont«, bemerkte Traian in leisem, schon fast freundschaftlichem Ton und nur ein ganz klein wenig amüsiert.
Die Kreatur stieß ein Zischen aus, einen leisen, hässlichen Laut, der blanken Hass verriet, bevor sie sich ohne Vorwarnung über Traians Nacken beugte und die Zähne in den Puls dort schlug. Von ihrem Versteck aus konnte Joie deutlich sehen, wie die langen Eckzähne sich in Traians Fleisch bohrten. Es war etwas, das sie bisher nur in Filmen gesehen hatte, und ihr Herz begann so laut zu schlagen, dass sie befürchtete, das Ding könne das Pochen über das Geräusch des Wassers und das Knacken des Eises hinweg hören.
Leise ließ sie sich auf dem Boden nieder und schob sich mithilfe ihrer Ellbogen auf dem Bauch zwischen zwei Eissäulen hindurch, um eine bessere Position für einen Angriff zu erlangen. Den Blick auf ihr Zielobjekt geheftet, richtete sie sich hinter einem großen Eisgebilde langsam auf die Knie auf. Es dauerte ein paar angespannte Momente, bis sie ihre zitternden Hände unter Kontrolle brachte. Sie hatte schon viele Male in ihrem Leben Angst gehabt, aber immer – immer – war ihr Körper so ruhig wie ein Fels gewesen. Sich jedoch mit dieser scheußlichen Erscheinung konfrontiert zu sehen und nicht zu wissen, was sie war oder wie sie getötet werden konnte, war mehr als Furcht erregend.
Er ist sehr gefährlich, vor allem jetzt, da er das Blut eines Uralten in sich hat. Trotz der grauenvollen Kreatur, die ihn quälte, war Traians Stimme ruhig. Er ist sehr böse auf mich, weil ich Gallent, seinen Herrn, getötet habe.
Froh über Traians beruhigende Stimme in ihrem Kopf, schaute Joie sich das scheußliche Wesen, das sie jetzt besser sehen konnte, genauer an. Die Kreatur war groß und ausgemergelt, die Haut um seinen Schädel straff und dünn wie Pergament, als wäre das Ding schon lange tot. Grau-weiße Haarbüschel standen nach allen Seiten ab, während der Rest des Haars ihm in fettigen, verfilzten Strähnen fast bis auf die Schultern hing. Gierig schlürfte es das Blut aus Traians Halsschlagader, das seine Lippen und faulen Zähne rot verschmierte, dabei
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