Die Sehnsucht der Nacht: Erzählungen (German Edition)
bedauernd. Nun, da sie der Kreatur entkommen war, konnte sie fast nicht glauben, dass sie keine Probe des Wurmes mitgenommen hatte. Sie alle trugen Behälter für diesen Zweck bei sich. Gabrielle begleitete sie auf ihren Höhlentrips mehr mit der Absicht, Proben zu sammeln, als des Kletterns wegen. Joie hasste es, sie nach allem, was geschehen war, enttäuschen zu müssen. »Ich hätte welche sammeln müssen …«
Gabrielles unerwartetes Lachen klang fast erschreckend laut in der stillen Höhle. »Sei nicht albern! Ich wäre auch um mein Leben gerannt. Ich bin nur froh, dass dir nichts passiert ist.«
»Noch sind wir nicht in Sicherheit«, erinnerte Traian sie ernst. Alle fröstelten und schienen es nicht zu merken, doch trotz seiner Hilfe und ihrer speziellen Kleidung setzte die Kälte ihnen zu. »Wir müssen weiter.«
Joie hockte sich sofort hin, um die Steigeisen an ihren Stiefeln zu befestigen. Sie würde nicht wieder riskieren, ohne sie zu sein. »Lasst uns einen Ausweg aus diesen verfluchten Höhlen suchen«, sagte sie, als sie sich wieder erhob.
»Warte, Traian!«, warf Jubal ein. »Wir haben etwas gefunden – etwas wirklich Wichtiges. Du meintest doch, diese Vampire suchten irgendetwas, deshalb musst du dir ansehen, was wir entdeckt haben. Wir haben so etwas noch nie gesehen.«
Traian nahm Joies Hand, als sie ihren Geschwistern durch die Kammer zu der Galerie dahinter folgten. Es erschien ihr ein bisschen albern, Händchen zu halten – das hatte sie noch nie getan, nicht mal auf der Highschool, aber es hatte auch etwas erstaunlich Angenehmes und Beruhigendes, Traian so nahe zu sein.
Durch die Kammer gelangte man zu einer hohen Galerie, in der irgendjemand – oder irgendetwas – Räume und Nischen aus den Eiswänden herausgearbeitet hatte. Lampen schmückten diese Wände, doch sie befanden sich in einer Höhe, die es Traian und den anderen unmöglich machte festzustellen, wie oder ob sie überhaupt noch funktionierten. Joie runzelte die Stirn und blickte fragend zu Traian auf, in der Hoffnung, bei ihm die Antwort darauf zu finden, wie eine Eishöhle von jemandem bewohnt sein konnte. Es musste sehr viel Zeit gekostet haben, die mächtigen Eissäulen und all die Räume und Alkoven anzulegen.
Jubal ging auf eine nicht allzu tiefe Nische in der Wand zu und richtete die Stirnlampe auf das Eis. Eine jähe Stille entstand, als alle den Atem anhielten. Das in dem Eis eingeschlossene Wesen war ein riesiges Tier mit einem keilförmigen Kopf, einem schuppenbedeckten Körper mit schlangengleichem Nacken und einem langen Schwanz, der in einer scharfen Spitze endete. Dazu hatte er dicht am Körper anliegende Schwingen. Seine mächtigen Füße waren mit scharfen Krallen versehen, mit denen das Tier Beute reißen und zerfleischen konnte. Eines seiner Augen war geöffnet und starrte sie durch die mehr als drei Meter dicke Eiswand an, hinter der das Wesen irgendwie verzerrt aussah.
Joie ließ langsam den angehaltenen Atem aus. »Das ist kein Dinosaurier.«
»Es muss einer sein«, entgegnete Gabrielle. »Ein Drache kann es ja wohl nicht sein, oder? Erzählt mir das bitte nicht!« Fragend wandte sie sich Traian zu. »Und sag du mir bitte, dass wir wegen der schlechten Luft hier unten alle Halluzinationen haben. Dass es keine Vampire gibt. Dass du dich nicht in einen Wolf verwandeln kannst und dass Drachen nicht existieren.«
»Ich wünschte, ich könnte dir das sagen, Gabrielle«, erwiderte Traian sanft.
Sie schüttelte den Kopf und berührte mit einer behandschuhten Hand das Eis. »Das Tier ist wirklich schön. Aber das wird uns auch nie jemand glauben.«
»Ist es real, Traian?«, hakte Jubal in respektvollem, ja sogar ehrfürchtigem Ton nach.
»Ja, ist es. Ich hatte keine Ahnung, dass es hier unten ist.« Traian näherte sich der Eiswand und ließ den Blick über den großen Drachen gleiten. Wie Gabrielle legte er eine Hand an die Wand, doch bei ihm hatte die Geste etwas viel Intimeres. Mehr als Respekt und Ehrfurcht schien seine Berührung eine Art liebevoller Tribut an das in dem Eis eingeschlossene Tier zu sein. »Ich habe seit Hunderten von Jahren keinen Drachen mehr gesehen.«
Gabrielle sog scharf die Luft ein und trat von Traian zurück und neben ihren Bruder, als suchte sie bei Jubal Schutz. Sie wechselten einen langen Blick, den der Karpatianer allerdings nicht zu bemerken schien. Joie war einzig auf seinen schon fast andächtigen Gesichtsausdruck konzentriert.
»Denkst du, dass es das ist, was die
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