Die Sehnsucht der Nacht: Erzählungen (German Edition)
sie alle auf den schmalen Tunnel zu. »Ihr dürft nichts anfassen, egal, wie interessant es aussieht«, fügte er vorsichtshalber hinzu.
Jubal sah Joie an. »Es sieht dir gar nicht ähnlich, so schnell nachzugeben, Joie. Bist du sicher, dass er dich nicht irgendwie verzaubert hat?« Dann stöhnte er und griff sich an den Kopf. »Gott, wie melodramatisch und absurd das klingt! Ich kann nicht glauben, was ich da gesagt habe.«
»Ich bin eine Expertin, Jubal, und brauche mir nichts zu beweisen. Dies hier ist Traians Fachgebiet, nicht meins.«
Der Gang führte in eine weitere riesige Galerie. Hohe gotische Säulen waren an den Wänden in das Eis geschnitzt. Auch die domartige Decke war ungemein beeindruckend. Eis- und Kristallpfeiler verliefen in zwei langen Reihen durch den Raum, und jede Reihe wies mehrere Kugeln aus verschiedenen Farben auf. Als sie den gewaltigen, ballsaalgroßen Raum betraten, flammten Lichter auf. Flammen tanzten unter von Menschenhand geschaffenem Glas, das an den Seiten der dicken Eiswand hinauflief.
Traian hob warnend eine Hand, damit alle stehen blieben. »Passt auf, wohin ihr eure Füße setzt! Es muss einen Weg geben, der aus dieser Galerie hinausführt. Ein mächtiger Magier hat sich hier niedergelassen, oder zumindest irgendwann einmal, und er muss einen Weg gehabt haben, um schnell herauszukommen. Schwärmt aus und seht euch um, doch fasst um Himmels willen nichts an.«
Wie ihre Geschwister wurde auch Joie wie magnetisch von den beiden Reihen bunter Kugeln angezogen. Sie überquerte das Eis mit Vorsicht und ging, gefolgt von Jubal und Gabrielle, langsam an der Reihe verschieden großer Kugeln entlang. Mit schmalen Augen spähte sie in eine der größten, die aus milchig blauem, natürlichem Saphir bestand. Während sie sie noch bestaunte, vertiefte und verdunkelte sich die Farbe, und die Kugel begann sich mit erschreckender Geschwindigkeit zu drehen. Fasziniert trat sie noch näher. Der Boden unter ihr schwankte und neigte sich, und sie verspürte einen seltsamen Sog, als riefe die wild rotierende Kugel sie.
Traian legte seine Hand über ihre Augen und zog sie von der Kugel weg. »Sieh sie nicht an. Gabrielle, komm weg da!« Eine ungewohnte Strenge lag in seiner sonst so angenehmen Stimme. »Zieh sie weg, Jubal! Ich kann die Aura der Macht all dieser Dinge spüren. Bis wir wissen, worin sie besteht, müssen wir einen großen Bogen darum machen.«
Joie war verblüfft, dass sie so schnell unter den Einfluss der Kugel geraten war. »Ich dachte, Magier wären nicht böse, sondern gut?«
»Absolute Macht verdirbt. Das lernt man in Hunderten von Lebensjahren.« Traian trat dicht an Joie heran und sorgte dafür, dass sein Körper zwischen ihr und den hohen Pfeilern blieb.
Joie lachte. »Lass das nur ja nicht Gabrielle oder Jubal hören! Wenn du ihnen sagst, dass du schon einige Jahrhunderte auf dem Buckel hast, überlegen sie es sich vielleicht noch anders mit uns.«
»Ich habe es schon gehört«, sagte Jubal, der hinter Gabrielle herging und sie durch den langen, großflächigen Raum scheuchte. »Und nach der Sache mit dem Drachen wundert es mich auch kaum noch. Ich finde es einfach bloß erstaunlich.«
Kleine Skulpturen mythischer Wesen aus durchsichtigem Kristall und blutrote steinerne Pyramiden befanden sich in aus der Wand herausgearbeiteten Bögen. Es war äußerst schwierig, die Edelsteine und vielen seltsamen Gegenstände nicht anzustarren, aber Traian war offensichtlich sehr besorgt um ihre Sicherheit, und auch sie waren sich der tödlichen Kreaturen, die sie verfolgten, nur allzu gut bewusst.
»Jubal?«, rief Joie.
Als er sich umdrehte, sah er, dass sie die Stirn runzelte, und auch Gabrielle und Traian starrten ihn verwundert an. »Was ist?«, fragte er.
»In jeder Nische, an der du vorbeigehst, gehen die Lichter an«, erwiderte Traian in argwöhnischem Ton.
Jubal zuckte mit den Schultern. »Vielleicht löse ich irgendeinen verborgenen Mechanismus oder so was aus.«
»Es sind nicht nur die Lichter, Jubal«, sagte Joie. »Auch die Gegenstände auf den Regalen reagieren auf dich. Sie neigen sich dir zu, und einige haben sich sogar erhoben, als versuchten sie, dich zu erreichen.« Ihr gefiel das jähe Misstrauen nicht, das sie in Traians Stimme gehört hatte und über ihre telepathische Verbindung zu ihm spürte.
Ganz bewusst trat er jetzt an eine Nische heran, in der Regale, die voller Waffen waren, die Wände säumten. Kein Licht erhellte den kleinen Raum, der von dem
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