Die Sehnsucht der Nacht: Erzählungen (German Edition)
Eingang bald erreichen, und er ist so schmal, dass es nicht leicht war, deinen Bruder hindurchzubekommen.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Joie öffnete die Augen und sah sich um. Die Brücke wirkte zerbrechlicher denn je, und rechts und links von ihr ging es schier endlos in die Tiefe. Das Eis an beiden Enden der Brücke sah relativ fest aus, aber etwa einen Meter fünfzig vom Rand entfernt konnte sie ein großes Loch im Brückenboden sehen. Joie schnappte entsetzt nach Luft, als sie es entdeckte. »Du hast versucht, sie dort abzusetzen, um mich zu holen.«
»Ja. Dein Bruder fiel hindurch. Zum Glück konnte ich ihn gerade noch am Arm packen und zurückziehen. Das Eis sieht nur so aus, als wäre es dick genug. Es ist eine Illusion wie fast die ganze Brücke.«
Joie schüttelte den Kopf. »Dieses Höhlensystem ist eine einzige große Todesfalle.«
Traian hielt vor dem Eingang zu dem Tunnel, und während er fast unmittelbar über der Schicht Eis schwebte, berührte er zärtlich Joies Gesicht. »Ich kann fast nicht glauben, dass du hergekommen bist, um mich zu suchen. Oder dass du real und nicht nur eine Illusion bist«, sagte er leise. Seine Lippen streiften ihre Wange leicht und sachte wie Schmetterlingsflügel, und trotzdem spürte Joie die Berührung bis in ihre Zehenspitzen. Die kleine Zärtlichkeit ließ das Blut durch ihre Adern rauschen und ihr Herz gleich schneller schlagen, und sie wärmte sie, wie nichts anderes es hier in dieser Eiseskälte könnte.
Joie schloss für einen Moment die Augen und genoss es, Traian so nahe zu sein. »Ich habe keine Ahnung, was zwischen uns abgeht, aber ich spüre es auch. Es fällt mir nur schwer zu glauben, dass irgendetwas davon real ist«, gab sie zu. »Und was ist mit dem Wolf? Telepathie, okay, das kann ich akzeptieren. Selbst deinen komischen kleinen Beißfetisch, aber meinst du nicht, dass es ein bisschen zu weit geht, dich in Tiere zu verwandeln und durch die Luft zu fliegen?« Sie wusste, wie flapsig sie klang, doch sie hatte das Gefühl, sich tatsächlich langsam am Rande des Wahnsinns zu bewegen. Es war, als wäre sie in einem Horrorfilm gefangen.
Traian schloss sie noch fester in die Arme. »Es macht dir keinen Spaß zu fliegen?«
»Mir macht gar nichts Spaß, wenn ich die Situation nicht unter Kontrolle habe.«
Einer seiner Arme, die sie so besitzergreifend umfingen, drückte gegen die Unterseite ihrer Brüste und löste ein wohliges Kribbeln darin aus. »Du wirst die Situation auch nicht beherrschen, wenn ich dich lieben werde, Joie«, erwiderte er leise.
Beim Klang seiner tiefen, weichen Stimme schloss sie die Augen. Sie waren umgeben von Gefahren, ihre Geschwister waren in der Nähe – aber all das schien bedeutungslos zu sein. Sie war sich Traians so stark bewusst, dass sie ein schon fast schmerzhaftes Verlangen nach ihm verspürte. Ein fiebriges Begehren und eine nie gekannte Sehnsucht erfüllten sie. Ihr Körper war aufgewühlt und unruhig, und eine schier unerträgliche Spannung baute sich in ihr auf.
Mir geht es genauso.
Sie hatte sich oft genug mit ihrem Bruder und ihrer Schwester auf telepathischem Weg verständigt, es war ein Geheimnis, dass sie alle teilten. Aber bei Traian war es sehr viel mehr als nur Verständigung. Ihre geistige Verbindung war von einer Intimität, die erotische Nächte und leidenschaftliches Begehren zu verheißen schien. Warum? Warum mit dir?
Weil ich deine andere Hälfte bin und wir zusammengehören. Ich habe die ganze Welt nach dir abgesucht und viele Lebenszeiten auf dich gewartet.
Joie umklammerte sein Hemd noch fester und drückte das Gesicht an Traians Herz. Sie war eine Frau, die sich sehr gut kannte. Sie war ein Adrenalinjunkie. Eine Feministin. Jemand, der an Gerechtigkeit glaubte. Und sie liebte ihr Leben, wie es war – die vielen Reisen von Land zu Land und die gefahrvollen Aufträge, die sie zu erfüllen hatte. Ihre Ferien verbrachte sie mit Höhlenklettern, Wildwasserrafting oder Fallschirmspringen. Sie war keine Frau, die einen Mann wollte oder brauchte, und schon gar keine, die sich an einen klammerte – und dennoch konnte sie sich schon nicht mehr vorstellen, jemals wieder ohne Traian zu sein.
Sie blickte zu ihm auf, sodass das Licht ihrer Helmlampe sein Gesicht erhellte. Er hatte ihr Leben unwiederbringlich verändert. »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich dich akzeptieren kann.«
Traian lachte. »Zum Glück ist deine Akzeptanz nicht unbedingt vonnöten. Seelengefährten sind Seelengefährten;
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