Die Sehnsucht der Nacht: Erzählungen (German Edition)
gewesen.«
»Und welche Bedeutung haben Magier für einen Vampir? Ich weiß, wie es bei Menschen wäre. Die meisten von uns glauben eigentlich nicht an Märchen über Zauberer und Kristallkugeln – oder Drachen. Aber der war übrigens richtig cool, Traian.«
»Du hast die Kugeln in diesem Raum gesehen. Uralte Zauber und Mächte sind in ihnen verblieben. Deswegen wollen wir nicht, dass Vampire – oder sonst jemand – Dinge in die Hände bekommen, die man besser unbehelligt lässt. Wir Karpatianer sind von dieser Erde. Wir haben zwar übernatürliche Kräfte, doch wir setzen Macht nicht auf die gleiche Weise ein wie Magier.«
»Du glaubst, dass einige noch leben?«
»Das halte ich für sehr wahrscheinlich. Zumindest sollte man meinen, dass noch einige Nachkommen von ihnen geblieben sind und ihr Wissen, oder zumindest einen Teil davon, bewahrt haben.«
Joie seufzte. »Reizender Gedanke. Wer auch immer diesen Schattenkrieger hervorgebracht hat, wird ganz sicher nicht zu meinen besten Freunden zählen.«
»Oder meinen«, sagte er in einem Tonfall, der nichts Gutes ahnen ließ.
Joie erhob schnell den Blick zu ihm. »Ich weiß, was du denkst. Dir fiel gerade wieder ein, dass ich auch ein Magier sein muss, falls mein Bruder einer ist. Wir stammen von denselben Eltern ab, das ist eine unbestreitbare Tatsache«, sagte sie, um dann besorgt hinzuzufügen: »Ich kann übrigens weder Gabrielle noch Jubal erreichen. Sie sind zu weit entfernt.«
Traian schöpfte Atem und blieb stehen, um über seine Blutsverbindung telepathischen Kontakt zu Jubal aufzunehmen. »Sie sind außerhalb der Höhlen und auf dem Weg zum Gasthof. Sie wollten einen Rettungstrupp zusammenstellen, aber ich habe ihnen mitgeteilt, dass das nicht nötig ist und wir bald bei ihnen sein werden.«
Joie sackte fast zusammen vor Erleichterung. »Bist du sicher?«
»Absolut.«
Sie folgte ihm durch den langen Gang, ohne der Schönheit und Pracht ihrer Umgebung auch nur einen Blick zu gönnen, weil sie schon die frische Luft an ihrem Körper spürte. Außerdem war sie so froh, dass ihr Bruder und ihre Schwester es hinausgeschafft hatten, dass sie hätte weinen können vor Erleichterung. Sie suchte nach einem Gesprächsthema, um von der Intensität ihrer Empfindungen nicht mitgerissen zu werden. »Es ist lange her, seit du hier aufgewachsen bist, nicht wahr?«
Traians weiße Zähne blitzten im Schein ihrer Laterne, als er Joie angrinste. »Nun ja, genau genommen habe ich schon Jahrhunderte des Lebens hinter mir. Ich erinnere mich kaum noch an meine Eltern.« Sein Lächeln entglitt ihm. »Die Erinnerungen an meine Kindheit sind bis auf ein paar flüchtige Eindrücke verblasst. Ich erinnere mich nur noch an die letzten Jahre, bevor ich mein Heimatland verließ. Ich weiß noch, wie der Prinz uns alle anschaute. Ich sah es in seinen Augen – seinen eigenen Tod, den Niedergang unseres Volkes, seine Angst um all die Krieger, die er von zu Hause fortschickte. Wir hatten nur so wenige Frauen, selbst damals ging ihre Anzahl schon zurück. Zu jener Zeit hatten wir noch Bündnisse mit Menschen, aber heute bleiben wir für uns und bemühen uns nur, uns anzupassen.«
Joie lauschte dem Klang seiner Stimme und hörte den tief empfundenen Schmerz darin. In seinem Geist sah sie die Kämpfe, hier und da sogar mit Freunden aus seinen Kinderjahren. Sie erblickte seine inneren Dämonen, hörte das heimtückische Geflüster von Macht und bemerkte auch den dunklen Fleck, der sich langsam in ihm ausdehnte und ihn zu beherrschen suchte. Und er war immer allein. In jeder Erinnerung, die sie sah, war er allein. Joie wollte ihn trösten und nahm seine Hand, um ihre Finger mit den seinen zu verschränken. Es hatte nur eine kurze Geste sein sollen, aber er verstärkte den Griff um ihre Hand.
»Ich bin ganz anders aufgewachsen«, sagte sie und duckte sich, um einem großen Kristallgebilde auszuweichen. »In meiner Familie haben wir alle eine sehr innige und liebevolle Beziehung zueinander. Beispielsweise reden wir ständig alle durcheinander und geben einander alle möglichen unerwünschten Ratschläge. Mein Dad erzählt unglaubliche Geschichten. Früher kam er sehr oft nachts in unser Schlafzimmer geschlichen, das Gesicht von einer Taschenlampe angestrahlt, und erzählte uns Gruselgeschichten, bis wir schrien und lachten und Mom hereingelaufen kam, um ihn zu schelten. Einmal, nachdem er uns aus Stephen Kings Cujo vorgelesen hatte, schmierte er unserem riesigen Hund Sahne um das Maul
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