Die Sehnsucht der Nacht: Erzählungen (German Edition)
miteinander verständigen, aber noch nie zuvor mit jemand anderem. Wir dachten, es läge in der Familie, weil Mom und Dad es auch können.
Es könnte als Arroganz betrachtet werden zu glauben, nur eure Familie sei imstande, sich auf telepathischem Weg zu verständigen.
Joie musste wieder lachen. Wahrscheinlich hast du recht. Auf jeden Fall ist es etwas, das ich stets für selbstverständlich hielt in unserer Familie. Weil wir schon immer so gewesen sind.
Beide Elternteile?
Joie versuchte, das Misstrauen in seiner Stimme zu überhören und es auch selbst nicht zu spüren. Er hatte wirklich Vorurteile gegen Magier. Ja, beide Elternteile. Und wir sind zu hundert Prozent Menschen. Ich kann dir meine Geburtsurkunde und all meine fürchterlichen Schulaufnahmen zeigen.
Ich würde sehr gern deine fürchterlichen Schulaufnahmen sehen, weil mich alles an dir interessiert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du irgendwann nicht hübsch warst, besonders nicht als kleines Mädchen. Aber wie dem auch sei – du bist auf jeden Fall zu einer schönen Frau herangewachsen.
Er sagte es so beiläufig, dass Joie nicht protestieren konnte. Wie die meisten Frauen hielt sie sich keineswegs für schön, doch es war erfreulich, dass sie es in seinen Augen war. Danke. Schön, dass du so denkst.
Die Lichter des Gasthofs erhellten jetzt schon den Boden unter ihnen, und Traian landete in einiger Entfernung, wohin das Licht nicht mehr reichte. Musik drang aus dem zweistöckigen Gebäude und wurde vom Wind in alle Richtungen getrieben. Auf der Veranda, die das ganze Haus umgab, und den meisten Balkonen wimmelte es von Menschen, von denen einige tanzten, andere plauderten und wieder andere die Ungestörtheit dunkler Ecken suchten und sich küssten.
»Das Festival!«, sagte Joie und schlug sich an die Stirn. »Das hatte ich total vergessen. Und sieh mich an – ich sehe schrecklich aus!«
»Für mich bist du bezaubernd«, wandte Traian ein. »Welches Zimmer ist deins?«
»Erster Stock, dritter Balkon links.« Sie grinste ihn an. »Fliegen wir dorthin?«
»Ist die Balkontür abgeschlossen?«
»Das würde mich nicht aufhalten. Ich bin nicht nur geübt im Fassadenklettern, sondern kann auch Schlösser knacken.«
Seine Augenbrauen fuhren in die Höhe. »Ich bin beeindruckt. Diese Fähigkeiten könnten einem Jäger wie mir noch sehr gelegen kommen.«
Sie sah ihn aus schmalen Augen an und verschränkte die Hände hinter seinem Nacken. »Sie kommen auch einem Bodyguard gelegen. Ich habe ein Geschäft, wie du weißt, und gelte als eine der Besten in der Branche.«
»Ich bezweifle nicht, dass du das bist.« Er schwang sich blitzschnell mit ihr in die Luft auf und genoss es, wie sie sich an ihn klammerte.
Lach mich nicht aus, Traian!
Ich lache dich nicht aus.
Ich kann dein Lachen spüren. Aber was findest du überhaupt so lustig? Es ist nicht normal, durch die Luft zu fliegen, weißt du.
Für mich schon.
Kaum hatte sie den festen Balkonboden unter ihren Füßen, löste sie sich schnell von Traian. »Na prima. Musstest du das mit hundert Leuten in der Nähe tun?«, murmelte sie vor sich hin.
»Sie können dich nicht sehen. Ich habe dich vor ihren Augen abgeschirmt.«
Sie warf einen Blick über seine Schulter. »Wir sind unsichtbar? Wow. So leicht hätte ich es auch gern mal. In meinem Job wäre es ein großes Plus, sich unsichtbar machen zu können. Kein Wunder, dass dich sogar Vampire fürchten.«
»Sie können auch fliegen und ihre Gegenwart vor anderen verbergen.«
Joie stieß die Tür zu ihrem Zimmer auf. »Wie schön für sie. Wo kommen diese Monster eigentlich her?«
Traian folgte ihr ins Zimmer, und sie drehte sich zu ihm um, als sie seinen schweren Seufzer hörte. Er sah aufrichtig besorgt aus und schien ihre Frage nur sehr ungern zu beantworten.
»Die Antwort wird mir nicht gefallen, was?«
»Vampire sind Karpatianer, die sich dafür entschieden haben, für einen kurzen Moment der Macht und den Nervenkitzel des Tötens – für einen Rausch, wenn du so willst – ihre Seelen aufzugeben. Nach den ersten zweihundert Lebensjahren etwa verlieren unsere Männer ihre Emotionen und können keine Farben mehr sehen. Einige früher, andere später, aber wir alle verlieren irgendwann alles, was uns heilig ist, falls wir nicht unsere Seelengefährtin finden. Nur eine Frau, das Licht in unserer Dunkelheit, kann uns das Empfindungsvermögen und die Fähigkeit, Farben zu sehen, zurückgeben. Seit mehreren Jahrhunderten hat unsere Rasse
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