Die Sehnsucht der Nacht: Erzählungen (German Edition)
aufzuwachsen.
Als sie lächelnd zu Traian aufblickte, verschlug es ihr den Atem. Sie war halb bestürzt, halb fasziniert von der Gestalt, die er inzwischen angenommen hatte. Er flog mit den gewaltigen Schwingen einer riesigen Eule, doch es waren menschliche Arme, die sie an die weich gefiederte Brust drückten. Die Federn kitzelten Joies Haut und sandten einen Schauder über ihren Rücken, als sie merkte, wie real dies alles war. Sie versuchte, ihren jagenden Herzschlag zu beruhigen, weil sie sicher war, dass Traian andernfalls den Unterschied bemerken würde. Ihr war jeder seiner Atemzüge derart stark bewusst, dass sie sich nicht vorstellen konnte, es könnte für ihn anders sein.
Ich war schon lange nicht mehr fähig, die Schönheit meiner Umgebung wahrzunehmen , sagte Traian, als er sich umblickte. Aber du hast recht, es ist wirklich wunderschön hier. Und ich danke dir für das große Geschenk, das du mir machst.
Joie blickte sich vorsichtig um, als ihr Herz ein wenig ruhiger schlug. Sie flog durch die Luft mit einem Mann, der seine Gestalt verändern konnte. Astralreisen waren cool, ganz ohne Zweifel, doch das hier – das war mehr als nur fantastisch: das Gefühl des Windes in ihrem Gesicht, die Leichtigkeit, mit der Traian sich herabfallen lassen und so dicht über Seen und Schluchten dahinfliegen konnte, dass alles, sogar die Blätter an den Bäumen, erstaunlich klar zu sehen war.
Du hast mir auch ein Geschenk gemacht, Traian. Ich hätte nie gedacht, so etwas einmal zu erleben. Es ist noch viel besser, als aus einem Flugzeug zu springen.
Sie konnte spüren, dass sein Herz einen Schlag aussetzte.
Du springst aus Flugzeugen?
Mit einem Fallschirm natürlich. Ich springe nicht einfach nur heraus und bete, dass ich eine weiche Landung haben werde . Ein leises Lachen sprudelte aus ihr heraus. Traian flog über den Nachthimmel, kämpfte mit Vampiren und verwandelte sich in Vögel, aber ihr Faible für Fallschirmspringen missbilligte er offenbar. Wie verrückt war das denn?
Du bist ein wenig altmodisch, nicht wahr?
Vielleicht . Es lag nichts Entschuldigendes in seinem Ton. Dein Bedürfnis, gefährliche Dinge zu tun, muss gezügelt werden, Joie. Du hast ja keine Ahnung, wovor du mich gerettet hast. Ich kann dir nicht einmal ansatzweise erklären, wie wichtig es für mich ist, dass du lebst.
Joie runzelte die Stirn. Er war sehr ernst, und sie konnte die absolute Aufrichtigkeit in ihm spüren. Traian machte einen Umweg und flog nicht direkt zu dem Gasthof, nur um ihr das fantastische Gefühl des Fliegens zu vermitteln und ihr einen großartigen Ausblick auf sein Heimatland zuteilwerden zu lassen. Er war vielleicht ein bisschen altmodisch, doch er war auch ausgesprochen liebevoll und aufmerksam.
Er kehrte sie gleichsam von innen nach außen, und ihr blieb im Grunde nicht einmal die Zeit, darüber nachzudenken, was mit ihr geschah. Sie ließ sich einfach nur von seiner außerordentlichen Maskulinität und Sinnlichkeit übermannen, von seiner starken Persönlichkeit und der Tatsache, dass er ein Kämpfer war wie sie. Traian war stark genug, um sich ihr gegenüber zu behaupten, und das konnte sie respektieren – das und ihn, weil sie wusste, dass auch sie eine starke Persönlichkeit war, die in fast jeder Lage automatisch die Kontrolle übernahm.
Jubal dagegen war mehr wie ihr Vater und viel gelassener als sie. Er würde sich nie Hals über Kopf in einen Kampf stürzen, sondern blieb immer ruhig und besonnen, bevor er tat, was nötig war. Gabrielle war eine leidenschaftliche Wissenschaftlerin und abenteuerlustig genug, um mit ihren Geschwistern und Eltern hohe Berge zu besteigen und tiefe Höhlen zu erforschen, aber sie war nicht in gleicher Weise kämpferisch, wie Joie es war.
Ich werde dich verrückt machen , gestand sie Traian.
Das ist mir nur zu gut bewusst , erwiderte er mit unverhohlener Belustigung, die langsam ihren ganzen Kopf ausfüllte.
Jetzt konnte auch sie sich ein Lachen nicht verkneifen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich in meinem Geist haben will, erwiderte sie, und ihr Lachen verstummte jäh. Du weißt, dass ich drauf und dran war, mich in eine Klinik einweisen zu lassen, weil ich ständig deine Stimme hörte. Es hat mich wirklich sehr verstört, sie nicht zum Schweigen bringen zu können.
Traian runzelte die Stirn. So fremd war dir das? Obwohl du doch auch auf telepathischem Weg mit deinem Bruder und deiner Schwester sprichst?
Das ist etwas anderes. Wir konnten uns schon immer so
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