Die Sehnsucht der Pianistin
Kinn, eine Angewohnheit, die Vanessa von ihr geerbt hatte. „Am Anfang kam es mir vielleicht etwas sonderbar vor, wegen Emily. Aber Emily war tot, und wir waren beide allein, Adam und ich. Vielleicht sind wir uns auch deshalb nähergekommen, weil wir beide so an Emily gehangen haben. Ich bin stolz darauf, dass er mich liebt.“ Ihre Wangen röteten sich. „In den vergangenen Jahren hat er mir etwas gegeben, das ich nie zuvor von einem anderen Mann bekommen habe: Verständnis.“
Sie drehte sich um und eilte die Treppe hinauf. Als Vanessa ins Zimmer kam, stand sie vor der Frisierkommode und nahm ihre Perlenkette ab.
„Entschuldige bitte, ich wollte nicht grob sein.“
Loretta warf die Perlen auf die Holzplatte. „Ich will nicht, dass du dich entschuldigst wie eine höfliche Fremde, Vanessa. Du bist meine Tochter. Mir wäre es lieber, du schreist mich an oder schlägst Türen oder rennst in dein Zimmer, wie du es früher getan hast.“
„Ich war auch drauf und dran.“ Vanessa trat ins Zimmer und fuhr mit der Hand über die Lehne eines kleinen zierlichen Polstersessels. Auch der war neu, und irgendwie passte er zu der Frau, die ihre Mutter war. Ruhiger und ein bisschen beschämt, wählte sie ihre Worte sehr sorgfältig. „Ich nehme dir deine Beziehung zu Dr. Tucker nicht übel. Wirklich nicht. Ich bin nur überrascht, und was ich vorhin sagte, stimmt: Es geht mich nichts an.“
„Vanessa …“
„Nein, bitte.“ Vanessa hob die Hand. „Als ich jetzt zum ersten Mal wieder durch die Stadt fuhr, hatte ich den Eindruck, es hätte sich nichts verändert. Aber ich habe mich geirrt. Es ist nicht einfach, das zu akzeptieren. Es ist auch nicht einfach zu begreifen, dass es dir so leicht fällt, mit allem fertig zu werden.“
„Ja, fertig geworden bin ich“, sagte Loretta. „Leicht war es allerdings nicht.“
Anklagend sah Vanessa sie an. „Warum hast du mich gehen lassen?“
„Ich hatte keine Wahl“, sagte Loretta einfach. „Damals glaubte ich auch, dass es so für dich am besten sei. Dass du es so wolltest.“
„Dass ich es wollte?“ Der Zorn, den sie unterdrücken wollte, brach als Bitterkeit aus ihr heraus. „Bin ich denn je gefragt worden, was ich wollte?“
„Ich habe es versucht. In jedem Brief, den ich dir schrieb, bat ich dich, mir zu sagen, ob du glücklich bist oder ob du lieber wieder nach Hause kommen willst. Als du die Briefe ungeöffnet zurückschicktest, hatte ich meine Antwort.“
Vanessa erbleichte. „Du hast mir doch nie geschrieben.“
„Jahrelang habe ich dir geschrieben und gehofft, dass du – wenn auch nur aus Mitleid – wenigstens einen meiner Briefe öffnen würdest.“
„Es gab keine Briefe“, sagte Vanessa mühsam.
Wortlos ging Loretta zu einer Truhe am Fußende ihres Bettes. Sie nahm ein Kistchen heraus und öffnete den Deckel. „Ich habe sie alle aufgehoben“, sagte sie.
Vanessa schaute hinein und entdeckte Dutzende von Briefen, adressiert an Hotels in ganz Europa und den Staaten. Ihr Magen revoltierte, und sie setzte sich auf die Bettkante.
„Du hast sie nie gesehen, nicht wahr?“, fragte Loretta leise. Vanessa konnte nur den Kopf schütteln. „Nicht einmal Briefe hat er mir gegönnt.“ Aufseufzend schloss Loretta den Kasten und räumte ihn wieder fort.
„Warum?“, fragte Vanessa heiser. „Warum hat er mir deine Briefe vorenthalten?“
„Vielleicht fürchtete er, damit deine Karriere zu stören.“ Nach einem kurzen Zögern berührte Loretta die Schulter ihrer Tochter. „Er hatte Unrecht. Ich hätte dich nie daran gehindert, nach etwas zu streben, was du dir wünschtest und das du so sehr verdientest. Auf seine Art hat er dich beschützt und mich bestraft.“
„Wofür?“
Loretta wandte sich um und trat ans Fenster.
„Verdammt, ich habe ein Recht, es zu wissen.“ Wütend sprang Vanessa auf und presste im nächsten Augenblick keuchend die Hand auf den Magen.
„Vanessa?“ Sanft drückte Loretta sie auf das Bett zurück. „Was ist los?“
„Es ist nichts.“ Vanessa biss die Zähne zusammen. Es machte sie wütend, dass der Schmerz in ihrem Magen stärker war als ihre Selbstbeherrschung. „Nur ein kleiner Krampf.“
„Ich rufe Adam an.“
„Nein.“ Vanessa griff nach ihrem Arm. Ihre schmalen Finger waren stark und fest. „Ich brauche keinen Arzt. Es ist nur der Stress.“ Sie presste die Faust auf ihren Magen und versuchte den Schmerz zu überwinden. „Ich bin nur zu schnell aufgestanden.“
„Trotzdem kann es nicht schaden,
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