Die Sehnsucht der Pianistin
wenn er kurz einen Blick auf dich wirft.“ Loretta legte ihr behutsam den Arm um die Schultern. „Vanessa, du bist zu dünn.“
„Ich habe ein schweres Jahr hinter mir“, gab Vanessa zurück. „Deshalb habe ich mir ja auch ein paar Monate freigenommen.“
„Ja, aber …“
„Ich weiß, wie es mir geht. Ich bin okay.“
Bei Vanessas abweisendem Ton nahm Loretta den Arm von ihren Schultern. „Also gut. Schließlich bist du ja kein Kind mehr.“
„Nein.“ Sie faltete die Hände im Schoß, als Loretta aufstand. „Ich möchte eine Antwort. Wofür hat mein Vater dich bestraft?“
Loretta schien sich zu wappnen, und ihre Stimme war ruhig, als sie sagte: „Dafür, dass ich ihn mit einem anderen Mann betrogen habe.“
Einen Augenblick starrte Vanessa sie sprachlos an. Da stand ihre Mutter mit blassem, aber gefasstem Gesicht und gestand einen Ehebruch ein! „Du hattest eine Affäre?“, fragte Vanessa schließlich.
„Ja.“ Einen Augenblick verspürte Loretta Scham, doch an dieses Gefühl hatte sie sich im Laufe der Jahre gewöhnt. „Es gab da jemanden … Es spielt keine Rolle mehr, wer er war. Ich war fast ein Jahr lang mit ihm befreundet, bevor ihr nach Europa gegangen seid.“
„Ich verstehe.“
Loretta stieß ein freudloses Lachen aus. „Oh, ich bin sicher, dass du das tust. Deshalb will ich auch gar nicht erst versuchen, dir Entschuldigungen oder Erklärungen anzubieten. Ich habe mein Ehegelübde gebrochen und musste dafür zwölf Jahre lang büßen.“
Vanessa hob den Kopf, hin und her gerissen zwischen Verständnis und Abwehr. „Hast du ihn denn geliebt?“
„Ich brauchte ihn. Das ist ein großer Unterschied.“
„Du hast nicht wieder geheiratet.“
„Nein. Nach einer Ehe stand uns damals beiden nicht der Sinn.“
„Dann war es nur reiner Sex?“ Vanessa presste die Hände an die Schläfen. „Nur dafür hast du deinen Mann betrogen?“
Eine Flut von Emotionen spiegelte sich auf Lorettas Gesicht, aber dann fasste sie sich wieder. „So könnte man es ausdrücken. Jetzt, da du eine Frau bist, kannst du es vielleicht verstehen, auch wenn du es nicht vergeben kannst.“
„Ich verstehe gar nichts.“ Vanessa stand auf. Es war kindisch, über etwas zu weinen, das längst vorüber und vorbei war. „Ich muss nachdenken. Ich fahre ein bisschen hinaus.“
Allein gelassen setzte Loretta sich auf die Bettkante und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Ziellos fuhr Vanessa stundenlang durch die Gegend.
Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Immer wieder fragte sie sich, ob sie Verständnis für diese Treulosigkeit gehabt hätte, wenn es sich um eine andere Frau gehandelt hätte. Hätte sie die Sache dann mit einem Achselzucken abtun können, weil eine solche Affäre nun einmal menschlich war? Sie war nicht sicher. Außerdem war es nicht irgendeine Frau, sondern ihre Mutter.
Es war schon spät, als sie merkte, dass sie in die Straße einbog, die zu Bradys Haus führte. Sie wusste nicht, warum sie ausgerechnet hierher gekommen war, aber sie brauchte jemanden, mit dem sie reden konnte, der ihr zuhörte.
Die Fenster waren erleuchtet. Sie hörte den Hund bellen, als der Wagen sich dem Haus näherte. Langsam ging sie den Weg zurück, auf dem sie vor Brady geflohen war und vor ihren eigenen Gefühlen. Bevor sie klopfen konnte, war Brady schon an der Tür. Er sah sie durch die Glasscheibe an, bevor er aufmachte.
„Hallo.“
„Ich bin ein bisschen herumgefahren.“ Sie kam sich vor wie eine komplette Idiotin und machte einen Schritt rückwärts. „Tut mir leid, es ist schon spät.“
„Komm herein, Vanessa.“ Er nahm ihre Hand. Der Hund schnüffelte an ihren Hosen und wedelte mit dem Schwanz. „Willst du einen Drink?“
„Nein.“ Sie hatte keine Ahnung, was sie wollte. Sie sah sich um und war sich der Tatsache bewusst, dass sie ihn störte. An einer der Wände stand eine Trittleiter, und ein Kofferradio spielte mit voller Lautstärke. Harte Rockmusik hallte in dem kahlen Raum. Vanessa bemerkte eine weiße Staubschicht auf Bradys Händen und Unterarmen und sogar auf seinem Haar. „Du hast zu tun.“
„Ich schmirgle nur die Wände ab.“ Er drehte die Musik ab. Die plötzliche Stille machte sie befangen. „Das wirkt erstaunlich beruhigend auf die Nerven.“ Er griff nach einem Stück Sandpapier. „Willst du es mal versuchen?“
Sie brachte ein mildes Lächeln zustande. „Vielleicht später.“
Er ging an den Kühlschrank, holte eine Flasche Bier heraus und hielt sie hoch.
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