Die Sehnsucht der Pianistin
„Wirklich nicht?“
„Nein danke, ich muss noch fahren und kann auch wirklich nicht lange bleiben.“
Er öffnete die Flasche und nahm einen langen Schluck. Das kalte Bier spülte den Staub aus seiner Kehle, samt dem Knoten, der sich gebildet hatte, als er sie auf die Tür zukommen sah. „Ich hoffe, du bist nicht mehr böse auf mich.“
„Ich weiß nicht.“ Vanessa schlang die Arme um ihren Körper und trat ans Fenster. Sie hoffte den Mond zu sehen, aber er versteckte sich hinter einer Wolkenbank. „Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich denken soll.“
Er kannte diesen Blick, diese Schulterhaltung und diesen Ton in ihrer Stimme. So hatte sie vor Jahren reagiert, wenn ihre Eltern wieder einmal Streit hatten. „Warum sprichst du dich nicht aus?“
Sie hatte gewusst, dass er das sagen würde. Und er würde ihr zuhören. Das hatte er immer getan. „Ich hätte nicht herkommen sollen“, sagte sie seufzend. „Es ist wie ein Rückfall in alte Gewohnheiten.“
„Als wenn man in ein paar bequeme Schuhe schlüpft“, meinte er, obwohl ihm der Gedanke im Grunde gegen den Strich ging. „Komm, willst du dich nicht setzen? Ich könnte einen Sägebock abstauben oder eine Dose Trockenmörtel umdrehen.“
„Nein. Ich kann jetzt nicht sitzen.“ Sie schaute weiter aus dem Fenster, sah aber nur ihr eigenes blasses Spiegelbild in der Scheibe. „Meine Mutter hat mir erzählt, dass sie eine Affäre hatte, bevor mein Vater mit mir nach Europa ging.“ Als er nicht antwortete, drehte sie sich um und sah ihn an. „Du hast davon gewusst?“
„Damals noch nicht.“ Er sah den Schmerz und den Kummer in ihrem Gesicht, trat zu ihr und strich ihr übers Haar. „Kurz nach eurer Abreise kam es heraus.“ Er zuckte die Schultern. „Kleinstadtgeschwätz.“
„Mein Vater wusste es“, sagte Vanessa. „Zumindest habe ich meine Mutter so verstanden. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb er mich mitnahm und warum sie nicht mit uns kam.“
„Ich weiß nicht, was zwischen deinen Eltern vorgefallen war, Vanessa. Da musst du schon Loretta selbst fragen.“
„Ich weiß nicht, was ich zu ihr sagen und was ich sie fragen soll.“ Sie wandte sich wieder ab. „In all den Jahren hat mein Vater kein Wort darüber verloren.“
Das überraschte ihn nicht, aber er bezweifelte die Uneigennützigkeit von Julius’ Motiven. „Was hat sie dir noch gesagt?“
„Was gäbe es da noch zu sagen?“
Brady schwieg einen Augenblick. „Hast du sie gefragt, warum?“
„Das brauchte ich nicht.“ Vanessa fröstelte und rieb ihre Arme. „Sie gab zu, den Mann nicht einmal geliebt zu haben. Alles war rein körperlich. Nur Sex.“
Er betrachtete sinnend sein Bier. „Na ja, dann muss man sie wohl auf die Straße schleifen und steinigen.“
„Das ist kein Witz.“ Vanessa fuhr herum. „Sie hat ihren Mann betrogen. Sie hat ihn betrogen, während sie zusammenlebten, während sie vorgab, ein Teil der Familie zu sein.“
„Das mag ja alles stimmen, aber wenn man bedenkt, was für eine Art Frau Loretta ist, muss sie triftige Gründe dafür gehabt haben.“ Sein Blick lag ruhig auf ihr. „Es überrascht mich, dass du nicht von selbst darauf gekommen bist.“
„Wie kannst du Ehebruch rechtfertigen?“
„Das tue ich nicht. Doch nichts im Leben ist nur schwarz und nur weiß. Ich denke, wenn du den Schock erst einmal überwunden hast, wirst du sie nach den Grauzonen fragen.“
„Wie würdest du dich fühlen, wenn es sich um deine Eltern handelte?“
„Lausig.“ Er stellte das Bier ab. „Brauchst du eine Schulter zum Weinen?“
Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. „Ja“, stieß sie hervor und schmiegte sich dankbar in seine Arme.
Er drückte sie sanft an sich, und seine Hände strichen leicht über ihren Rücken. Er wusste, dass sie ihn jetzt brauchte. Sie brauchte ihn als Freund. Und das konnte er ihr nicht verweigern, so widersprüchlich seine Gefühle auch sein mochten. Er ließ die Lippen über ihr Haar gleiten, bezaubert von dem Duft, der Wärme und der satten Farbe. Sie hielt sich an ihm fest und drückte den Kopf in seine Halsbeuge.
Es passt immer noch, dachte er unwillkürlich. Wir passen immer noch perfekt zusammen.
Er wirkte so verlässlich. Vanessa fragte sich, wie aus einem so leichtfertigen Jungen ein so vertrauenerweckender, verlässlicher Mann werden konnte. Er gab ihr genau das, was sie brauchte, ohne dass sie ihn darum bitten musste. Nicht mehr und nicht weniger.
Sie schloss die Augen. Wie
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