Die Sehnsucht der Smaragdlilie
Sein Profil, scharf geschnitten wie eine alte Kamee, war im Licht deutlich zu erkennen.
Marguerite schnappte nach Luft, schüttelte heftig den Kopf und war überzeugt zu träumen. Sie musste zu viel von dem hervorragenden elsässischen Wein getrunken haben und litt jetzt unter einer Sehschwäche. Sie kniff fest die Augen zu.
Doch als sie sie wieder öffnete, war er immer noch da. Der Russe . Lachte unverschämt und war immer noch so schön wie in jener Nacht in Venedig. Der gefallene Engel, den zu töten sie sich geschworen hatte, wann immer ihre Wege sich wieder kreuzen würden. Da war er, nur wenige Schritte entfernt, an dem Ort, an dem sie ihn am wenigsten erwartet hätte.
Sie stellte ihren Kelch so heftig ab, dass der Rotwein über den mit Gravuren verzierten Rand des Kelches spritzte und ihr über die Finger tropfte. Glänzende Flecke, rot wie Blut, erblühten auf der weißen Damasttischdecke.
„Dieses dreiste cochon “, murmelte sie aufgewühlt.
„Geht es Euch nicht gut, Madame Dumas?“, fragte Pater Pierre besorgt.
„Mir geht es gut, danke. Ich denke, ich bin nur etwas müde von der Reise.“ Marguerite gelang es, sich wieder zu fangen.
„Dagegen hilft vielleicht noch ein wenig Wein“, sagte er und winkte einen der Pagen heran.
Während der Page erneut den Kelch füllte, betrachtete Marguerite verstohlen Nikolai Ostrowski. Anscheinend hatte er sie noch nicht bemerkt. Er saß da, lachte und scherzte mit seinen Gefährten und sorgte dafür, dass die Damen die feinsten Süßigkeiten auf ihren Tellern hatten.
Und bestimmt war er weit besser gekleidet als in Venedig! Zumindest erlesener. Auch war nichts von dem bunten Kostüm zu sehen, das er getragen hatte, als er auf der Piazza San Marco auf dem Seil tanzte. Jetzt war er in ein feines, dunkelrotes Seidenwams gekleidet, das mit goldenen Tressen verziert war. Sein einziger Schmuck war eine einzelne Perle, die er halb verborgen von seinem schimmernden Haar im Ohr trug.
Was für ein Spiel spielte er?
Sie würde es eben herausfinden müssen. Und zwar sehr rasch. Bevor er sie entdeckte.
5. KAPITEL
Im Palast war es ruhig, als Marguerite, in einen Kapuzenmantel gehüllt, aus ihrer Kammer schlüpfte. Der Morgen war sicher nicht mehr fern, denn das Bankett und die Darbietungen hatten noch stundenlang gedauert. Und es war kein leichtes Unterfangen, Hunderte von Höflingen dazu zu bringen, ins Bett zu gehen! Aber jetzt war alles still, fast schon geisterhaft still in der Schwärze der tiefen Nacht. Die einzigen Geräusche, so leise, dass man sie fast nicht wahrnehmen konnte, waren das Rascheln der Strohsäcke, auf denen die Pagen draußen vor den Türen schliefen, und das Flüstern von Claudines Zofen in ihren Betten.
Marguerite schlich die enge Treppe hinunter. Rauchende Fackeln, die hoch oben in Haltern steckten, beleuchteten die Stufen. Sie hatte die hochhackigen Brokatschuhe gegen Stiefel mit weichen Sohlen ausgetauscht und ihre schweren Unterröcke weggelassen. Den Rock hatte sie unter das Oberteil gestopft, damit er sie nicht behinderte. Sie lief schnell, stürzte die Treppe hinunter und hinaus in die Gärten.
Sie hatte einen der Pagen bestochen, damit er ihr sagte, wo der Russe untergebracht war. Doch sein Zimmer befand sich in einem entfernten Teil des Palastes, noch hinter den Unterkünften der Spanier. Nur der Mond und die Sterne, winzige Kristalle im violetten Samt des Himmels, waren Zeugen ihrer Unternehmung.
Sie hatte nicht erwartet, Nikolai Ostrowski so bald in ihrem Leben wiederzusehen. Auch nicht, dass er ihr wie eine reife Frucht zufallen würde. Während des ganzen Banketts und auch während der Aufführung in Henrys schönem neuen Theater hatte sie ihn genau beobachtet, während sie selbst sich vor ihm verbarg.
Wie absolut sorglos er wirkte, nur mit Lachen und den Späßen seiner Gefährten beschäftigt! Wie hatte er nur trotz der Gefahren, die ein Leben voller Reisen und Intrigen mit sich brachte, überlebt? Ihr war berichtet worden, wie geschickt er sich an den heimtückischen Höfen von Venedig, Mantua, Neapel und Madrid bewegt hatte. Und doch schien er von der Gefahr, die ihn jetzt umgab, keine Notiz zu nehmen.
Marguerite wusste nur zu gut, dass er nicht unachtsam sein und dabei am Leben bleiben konnte. In vielerlei Hinsicht waren sie beide von der gleichen Art. In einer kalten Welt gingen sie ihren Weg mit Hilfe ihres eigenen Verstandes, ihrer Klingen, ihres guten Aussehens – und ihrer Fähigkeit, den anderen, wenn es
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