Die Sehnsucht der Smaragdlilie
konkurrieren können. Aber später würde noch Zeit genug sein, nach Anne Boleyn zu suchen. Jetzt wies man ihnen ihre Plätze an einem langen Tisch auf der linken Seite des Saals zu. Die Spanier saßen auf der rechten Seite, und Henry begleitete Katharina zum Podest, wo sie bereits von Grammont und dem Gesandten Mendoza erwartet wurden.
Die Tische waren mit weißen Damastdecken bedeckt, die mit Rosen, Kronen und Schwertlilien bestickt waren. Auf den Bänken lagen weiche goldfarbene Samtkissen. Jeweils in der Mitte der Tische stand ein goldenes Salzfass, in das die Initialen H und K eingraviert waren. Und jeder Platz war mit einer kleinen Scheibe Brot, das in besticktes Leinen eingewickelt war, und einem großen Silberkelch mit feinem Wein aus dem Elsass versehen. Bald erschienen Diener mit großen Platten, beladen mit Wild, Kapaunen, Rebhühnern, Lerchen und Aal, Wildpastete mit Orangen und König Henrys Lieblingsspeise, gebackenen Neunaugen. Unter reichlichem Applaus wurde dem König ein gebratener Pfau präsentiert, den man wieder mit den eigenen Federn geschmückt hatte.
Von einer hinter Wandbehängen verborgenen Galerie erklang eine lebhafte, von Blockflöten, Lauten und Dudelsack gespielte Melodie. Rund um Marguerite wurde die Unterhaltung immer lauter. Sie knabberte an einem mit Blattgold überzogenen Lebkuchen und hörte nur mit halbem Ohr Pater Pierre zu, der gerade etwas zu ihr sagte. Überall um sie herum befanden sich jetzt die Menschen, mit denen sie die nächste Zeit verbringen würde und gegen die sie am Ende würde kämpfen müssen. Und die sie möglicherweise auch vernichten musste. Sie ließ ihren Blick prüfend über die Menge gleiten.
Sie wusste, dass sie heute Abend sehr wahrscheinlich nicht viel erfahren würde. Jeder zeigte sich von seiner besten Seite und achtete, obwohl der Wein in Strömen floss, auf sein Benehmen. Gewiss mussten sich auch die anderen erst einmal einen Überblick verschaffen. In einigen Tagen, wenn jeder sich an die langen, schwierigen Verhandlungstage und die noch längeren Abende des Vergnügens gewöhnt hatte, wenn Feindseligkeiten und auch Liebeleien in voller Blüte standen, würde es Marguerite eher möglich sein, die Stimmung zu beurteilen. Es würde ihr leichterfallen, aus den Rivalitäten und den Leidenschaften ihren ganzen Vorteil zu ziehen.
Heute Abend konnte sie nur beobachten und hoffen, dass sie hier und da Bruchstücke des kostbaren Hoftratschs aufschnappte.
Ein Akrobat im bunten Kostüm vollführte einige Rückwärtssaltos im Gang zwischen den Tischen, ihm folgte eine Gruppe Luftsprünge machender Zwerge und dressierter Hunde. Pagen schenkten noch mehr Wein aus und trugen Platten mit weiteren Delikatessen herbei. Marguerite lachte über die Späße, kostete von dem, was vor sie hingestellt wurde und ließ dabei nicht für einen Moment das Geschehen um sie herum aus den Augen. Beobachtete und lauschte, während mit fortschreitendem Abend die Stimmen immer lauter und das Lachen immer herzlicher wurden.
Sie bemerkte, dass König Henry sich gegenüber seiner Gemahlin keineswegs ablehnend verhielt. Tatsächlich zeigte er sich sehr besorgt um sie, kümmerte sich darum, dass ihr Kelch stets gefüllt war und dass sie vom Wild und vom Kapaun die besten Stücke bekam. Er lachte herzlich über die Witze seines Narren und hörte aufmerksam zu, wenn Wolsey ihm etwas ins Ohr flüsterte.
Prinzessin Mary, die für den Duc d’Orléans ausersehene Braut, saß bei ihrer Mutter. Sie wirkte blass in ihrer feinen Robe aus weißem Brokat, war hellhaarig und klein für ihr Alter. Und sie schien scheu und ernst zu sein, sprach nur mit ihrer Mutter oder in perfektem kastilianischen Spanisch mit dem spanischen Gesandten.
Die Mitglieder der spanischen Delegation auf der anderen Seite des Ganges betrugen sich nicht ganz so rau wie die englische, waren jedoch auch nicht gerade sauertöpfisch. Sie redeten und scherzten wie alle anderen auch. Eine hübsche Dame, ungefähr im Alter der Königin, führte die Unterhaltung. Es war eine Dame mit einem offenen Lächeln und sanften braunen Augen. Als Marguerite genauer hinsah, lachte die Dame gerade freundlich und hielt einem Mann neben sich ihren Kelch hin, damit er ihr nachschenkte.
Als er sich vorbeugte, wurde seine Gestalt von dem bernsteinfarbenen Glanz der Kandelaber beleuchtet. Sein offenes langes Haar, golden wie der Sommer, fiel ihm wie ein Vorhang vors Gesicht. Mit einer weichen Bewegung warf er es über die Schulter zurück.
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