Die Sehnsucht des Freibeuters: Er war der Schrecken der Meere - doch sein Herz war voller Zärtlichkeit. Roman (German Edition)
diesen Leuten. Jack und die anderen haben sie verfolgt, konnten sie jedoch nie fassen. Sie wurden immer lästiger. Wir dachten … zuerst dachten wir …« Sie unterbrach sich verlegen.
»Sie dachten, ich stecke dahinter«, ergänzte Charles mit ironisch hochgezogenen Augenbrauen. Als Jessica betreten dreinsah, grinste er spöttisch. »Natürlich, das liegt ja auch auf der Hand.«
Lan Meng schnaubte abfällig.
»Es fiel mehrmals der Name El Capitano«, erwiderte Jessica defensiv.
Charles gab keine Antwort. Er lehnte sich zurück und dachte nach. Sullivan und Reading wollten ihr Geschäft offenbar wirklich im großen Stil aufziehen. Noch war El Capitano in Ostindien zu präsent, aber über Harding hofften sie, Zugang zu bekommen. Und in die westindischen Geschäfte pfuschten sie ebenfalls seit geraumer Zeit hinein. Aber sie wollten noch mehr. Die Boston Trading Company hatte sich im nordamerikanischen Markt etabliert und betrieb Handel mit Ostindien, weil die sich in englischem Besitz befindlichen westindischen Häfen zum Großteil noch immer für amerikanische Schiffe geschlossen waren.
Kein Wunder, dass Sullivan hier eine weitere Möglichkeit gesehen hatte, zusätzliches Geld und Beute zu machen. Es wurde höchste Zeit, ihnen energisch einen Riegel vorzuschieben. Noch auf Kuba hatte er an alle Häfen und Niederlassungen entsprechende Befehle weitergegeben: Seine Flotte zog sich zusammen und würde statt lukrativer Prisen systematisch diese Piraten jagen.
Er wurde gewahr, dass Jessica ihn anblickte. Er hob fragend die Augenbrauen.
»Was ist aus Ihnen geworden, Charles?«, fragte sie leise.
Die Frage erstaunte ihn etwas, und er tat, als würde er überlegen. Dann sagte er: »Ein Pirat vermutlich. Sie befinden sich schließlich hier auf der El Capitano , dem Flaggschiff meiner Gesellschaft, Madam.«
Ihr Blick wurde traurig. »Sie haben also das Erbe Ihres Vaters angetreten.«
»Werfen Sie mir das etwa vor?«
»Es macht mir Angst. Sie machen mir ein wenig Angst«, gab sie zu.
Von Lan Mengs Seite kam abermals ein Schnaufen, dieses Mal belustigt, und Charles war ehrlich überrascht. »Habe ich Ihnen jemals den Eindruck vermittelt, ich würde einer Frau, oder gar Ihnen, etwas zuleide tun? Sie können versichert sein, dass ich alles daransetzen werde, Sie heil daheim abzuliefern.«
»Nein«, sie klang etwas ungeduldig. »Es ist … Ihr Ausdruck, er ist mir fremd.«
»Vielleicht kannten Sie ihn nur nicht?«, fragte er spöttisch.
Ihr Blick glitt über sein Gesicht. »Ihre Augen sind kalt, Charles. Selbst wenn Sie lächeln, bleiben sie hart.«
Kein Wunder. Dahinter verbarg er seine Angst um Harriet. Es war seine Schuld, dass sie überhaupt in die Sache hineingezogen worden war. »Man ändert sich«, meinte er mit einem Schulterzucken.
»Es … tut mir leid, wenn die Ereignisse damals all das ausgelöst haben, Charles.«
»Das anzunehmen hieße, diese Vorkommnisse überzubewerten«, erwiderte er leichthin. Die länger anhaltenden Gefühle hatten wohl mehr aus verletztem Stolz und gekränkter Eitelkeit bestanden. »Ausschlaggebend war der Tod meines Vaters. Man kann ein Unternehmen wie dieses nicht lange ohne Oberhaupt lassen, sonst endet alles im Chaos.« Ein beträchtliches Chaos, wenn man bedachte, dass ungefähr dreißig Piratenschiffe plötzlich auf eigene Faust und Rechnung losgesegelt wären, um Beute zu machen. Diese wenig erbauliche Vorstellung war damals, vor fünf Jahren, mit ein Grund für ihn gewesen, die Zügel in die Hand zu nehmen.
Es klopfte, und Johnson trat ein.
»Sie erinnern sich an Captain Johnson?« Charles wusste, dass seine Stimme sarkastisch klang, aber er gab sich keine Mühe, es zu verbergen. Jessica hatte die Tage auf der Sea Snake , als John O’Connor von Harding festgehalten, ausgepeitscht und dann beinahe erschossen worden war, zweifellos ebenso wenig vergessen wie er. Am Ende hatte sie, um ihren Geliebten zu retten, Harding mit einem Säbel die rechte Hand abgeschlagen; genau in dem Moment, als er auf Jack angelegt hatte, den Finger am Abzug.
Johnson war damals Erster Offizier gewesen und hatte, als Harding verletzt und fiebernd in seiner Kajüte gelegen hatte, das Kommando über die Sea Snake übernommen. Er und Charles hatten gut zusammengearbeitet. Bis zu jenem Zeitpunkt hatte Johnson Charles wohl immer nur als ein Anhängsel seines Vaters angesehen, er hatte sich ihm gegenüber auch ähnlich freundlich und höflich benommen, wie man einen jungen unbedarften Mann
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