Die Sehnsucht des Freibeuters: Er war der Schrecken der Meere - doch sein Herz war voller Zärtlichkeit. Roman (German Edition)
hatte das Schiff schräg in den Wind gelegt. Das Rauschen des Wassers erfüllte den ganzen Schiffskörper und auch die Große Kajüte, in der Charles seinen Steward hatte servieren lassen.
Sie unterhielten sich nur spärlich, zum einen, weil Charles immer an Deck horchte, zum anderen, weil Jessica eine gewisse Verlegenheit fühlte und sich auch durch die Anwesenheit der grimmig dreinsehenden Chinesin, in deren Schärpe zwei Pistolen und ein Dolch steckten, gehemmt sah. Die junge Frau – sie schien Jessica etwa Mitte zwanzig zu sein – durchbohrte sie schweigend mit Blicken, obwohl Jessica ihr mehrmals zulächelte. Schließlich beschloss sie, die unfreundliche Chinesin zu übersehen, und machte sich dankbar über das Essen her. Danach erzählte sie, wie ihr Schiff angegriffen worden war.
Charles hörte ihr nur mit einem halben Ohr zu, während er sie betrachtete. Er war beeindruckt von ihrer Schönheit. Sie war noch hübscher geworden, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Damals war sie um die zwanzig gewesen, aber nun war sie zu einer Frau gereift, die, wie Harriet auf der Reise ganz nebenbei erwähnte, schon zwei Kinder hatte. Harriet wusste das aus den Briefen, die zwischen Vanessa McRawley und Lady Elisabeth ausgetauscht wurden. Charles hatte diese Nachricht erstaunlich gleichgültig hingenommen. Und auch jetzt fühlte er nicht mehr den leisesten Stich des Verlustes oder der Eifersucht, sondern er konnte sie ansehen wie ein lebendiges Bild aus seiner Vergangenheit. Ein sehr reizvolles Bild, das allerdings von einer lebhaften Frau mit rotblondem Haar und Sommersprossen in den Schatten gestellt wurde. Er war in Jessica verliebt gewesen, aber seine Gefühle für sie waren nichts im Vergleich zu dem, was ihm Harriet bedeutete. Er hätte nicht dieses Wiedersehen gebraucht, um das zu begreifen.
Auch der Schmerz ihres Verlustes stand in keinem Verhältnis. Im Grunde war er schnell über Jessica hinweggekommen, schon weil das Erbe seines Vaters seine ganze Aufmerksamkeit erfordert hatte. Aber bis er in Ruhe an Harriet denken könnte, daran, was er mit ihr verlor, würde es sehr lange dauern.
Er sah sinnend auf seine Hände. Die Innenflächen waren immer noch roh und wund, und Lan Meng hatte darauf bestanden, sie zu bandagieren. Zumindest konnte er jetzt schon die Finger besser bewegen, auch wenn die heilende Haut juckte und die tief eingerissenen Nägel bei jeder Berührung brannten.
Er hatte Zeit zum Nachdenken gehabt. Es war schon schlimm genug, dass er Harriet aus Egoismus verführt hatte, aber mit einer Heirat würde er ihr Leben zerstören.
Es wäre ihm unerträglich, jede Nacht und jeden Tag seines Lebens darüber nachdenken zu müssen, ob seine Frau ihn nicht insgeheim verachtete oder verabscheute – so wie seine Mutter seinen Vater verabscheut hatte. Er sah seine Mutter jetzt noch vor sich, blass, unglücklich, ein Schatten. Sie hatte seinen Vater gehasst, das hatte Charles trotz seiner Jugend in jedem Wort, an jeder Geste gespürt. So sollte Harriet niemals enden. Er war auch nicht wie sein Vater – er würde Harriets Abneigung und Verachtung nicht gleichmütig ertragen.
Als Jessica ihren Bericht beendet hatte, fragte er: »Weshalb waren Sie an Bord des anderen Schiffes?«
»Ich wollte Verwandte besuchen. Da Jack keine Zeit hatte, hat mich eines unserer Handelsschiffe mitgenommen. Jack wird mich bestimmt schon suchen.«
Der hat sich in der Zwischenzeit vermutlich schon Hunderte Male in den Hintern gebissen, weil er dich nicht begleitet hat, dachte Charles höhnisch. Fast hatte er Mitleid mit dem einstigen Rivalen um Jessicas Liebe. Er durfte gar nicht darüber nachdenken, was er fühlen würde, wäre Harriet von Piraten entführt worden. Streng genommen war sie das auch, aber solange er Harding an ihrer Seite wusste, der alles tun würde, um sie zu beschützen, konnte er zumindest noch einigermaßen klar denken, ohne vor Sorge um sie halb verrückt zu werden. Und dennoch war er so ungeduldig, dass es ihm schwerfiel, Jessica mit äußerer Gleichmut gegenüberzusitzen. »Was geschah mit den anderen Passagieren?«
»Es gab keine. Und was aus der Besatzung geworden ist, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass der Captain und sein Erster Offizier getötet wurden. Mir haben sie deshalb nichts getan, weil sie mich als Druckmittel wollten.«
Charles zog die Augenbrauen zusammen. »Lösegeld?«
»Nein, sie wollten unsere Handelsgesellschaft mit mir erpressen. Wir hatten schon öfters Probleme mit
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