Die Sehnsucht des Freibeuters: Er war der Schrecken der Meere - doch sein Herz war voller Zärtlichkeit. Roman (German Edition)
ohne Verletzungen davongekommen. Sie sah die verkrustete Schramme auf der Stirn, als er ihr den Niedergang hinabhalf. Außerdem hatte er einen Schnitt am Arm, und dort, wo ihn Readings Messer an den Rippen verletzt hatte, war das Hemd blutig. Seine Hände sahen schrecklich aus. Sie blieb stehen, entwand sich seinem Arm und griff nach seiner rechten Hand. Die Innenfläche wirkte, als hätte jemand die Haut davon abgezogen.
Er entriss ihr seine Hand, als würde ihn ihre Berührung schmerzen. »Bei der Flucht«, sagte er abwehrend. »Ramirez hatte einen Soldaten bestochen, uns ein Seil herabzulassen. Ich konnte es beim Sturz gerade noch ergreifen und bin daran hinuntergerutscht.«
Zu seinem Schrecken sah er, wie schlagartig Tränen aus Harriets Augen quollen und auch schon die Wangen hinunterkullerten. Sie schluckte angestrengt. »Sie haben behauptet, du wärst ertrunken. Ich wollte zu dir, aber sie ließen mich nicht gehen.« Sie trat einen Schritt zu ihm hin. »Charles, es tut mir alles so leid. Es war meine Schuld.«
Er machte eine Bewegung, als wollte er nach ihr greifen, aber dann trat er einen halben Schritt zurück und bedachte sie mit einem kühlen Blick. »Das stimmt allerdings. Du bringst mich immer nur in Schwierigkeiten. Und jetzt ist es schon das zweite Mal, dass ich dich vor Piraten retten muss. Du scheinst das zur Gewohnheit werden zu lassen.« Er deutete mit dem Kopf zur Kajütentür. »Kümmere dich um Harding. Ich habe jetzt keine Zeit für dich.« Er kehrte ihr den Rücken zu und machte sich auf den Weg an Deck.
Zuerst blieb Harriet die Luft weg. Sie war doch so glücklich, ihn zu sehen, hatte ihm so viel zu sagen, wollte ihn nur berühren, seine Verletzungen versorgen und mit allen Sinnen bestätigt sehen, dass er lebte! Seine zärtliche Anrede hatte sie zuerst glauben lassen, er wäre ebenfalls froh, sie heil wiederzuhaben. Und jetzt das!
»Wobei die ersten Piraten ja zu dir gehörten«, schrie sie ihm zornig nach. »Ich habe bis heute nicht verstanden, woher deine befremdliche Großzügigkeit kam.«
Charles blieb stehen, ohne sich nach ihr umzudrehen. Er zuckte nur mit den Schultern. »Jeder macht so seine Fehler. Aber sobald die Sea Snake wenigstens zum Teil segeltüchtig ist, werden wir Kurs nach Boston setzen, dort kannst du dann deine Freunde in Schwierigkeiten bringen.«
»Vielen Dank, mach dir meinetwegen nur keine Umstände. Vor allem nicht mit diesen Lügen«, erwiderte Harriet gekränkt. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du jemals die Absicht hattest, mich dorthin zu bringen. Außerdem genügt es völlig, wenn du mich in einem halbwegs respektablen Hafen absetzt. Ich kann meine Reise sehr gut auch alleine fortsetzen.«
Charles drehte sich langsam zu ihr herum. »Ja, das habe ich gemerkt«, kam es höhnisch zurück, »bis El Morro bist du tatsächlich ganz ohne meine Hilfe gekommen. Und was die Reise nach Boston betrifft, so habe ich Captain Jenkins gegenüber die Verantwortung für dich übernommen, als ich dich damals bat, mit mir auf der Sea Snake zu reisen. Und dieser Verantwortung werde ich mich nicht entziehen, gleichgültig, wie lästig sie für uns beide auch sein mag.« Er wandte sich endgültig ab und ließ sie einfach stehen.
Harriet brauchte etliche Atemzüge, ehe sie sich genügend fasste, um nach Harding zu sehen. Mit Charles würde sie sich später beschäftigen.
Harding lag völlig angezogen und blutend auf seinem Bett, Lan Meng war neben ihm und versuchte, ihn dazu zu überreden, sich einen neuen Verband anlegen und die Beinwunde versorgen zu lassen. Er weigerte sich und warf sie sogar mit bösen Worten aus seiner Kajüte. Erst als Harriet dazukam, gelang es ihnen gemeinsam mit Hardings Steward, die blutigen Fetzen des alten Verbandes abzuwickeln und einen festsitzenden anzulegen, der die Blutung stillte. Danach kümmerte sich Lan Meng trotz seines energischen Protests um sein Bein. Die Wunde war ziemlich weit oben, und er hatte alle Hände voll zu tun, die Chinesin daran zu hindern, ihm die Hose herunterzuzerren. Endlich einigten sie sich darauf, nur das Hosenbein aufzuschneiden. Harriet betrachtete besorgt Hardings immer bleicher und grauer werdendes Gesicht. Noch vor wenigen Tagen hätte sie nicht gedacht, wie sehr sie sich um diesen unfreundlichen Menschen sorgen könnte. Und jetzt hatte er ihr das Leben gerettet, wenn auch nicht ihretwegen, sondern für Charles. Sie hätte ihm gern abermals unter die Nase gerieben, dass das Wort »mögen« offenbar doch
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