Die Sehnsucht des Freibeuters: Er war der Schrecken der Meere - doch sein Herz war voller Zärtlichkeit. Roman (German Edition)
erinnern, wie sie an der Samtschleife gezerrt hatte, die sein Haar im Nacken zusammenhielt, bis sie endlich nachgegeben hatte. Im Bewusstsein war ihr allerdings das angenehme Gefühl von Charles’ Haar geblieben, weich wie Seide und so dicht, dass Harriet am liebsten mit beiden Händen darin gewühlt hätte. Oder hatte sie etwa?!
Charles, offenbar nicht weniger benommen als sie, strich sich das Haar aus dem Gesicht. Er mied ihren Blick, als er sich suchend auf dem Boden umsah, dann bückte er sich nach seiner Samtschleife und betrachtete sie, als wüsste er nichts damit anzufangen. »Donnerwetter«, sagte er heiser. »Damit hatte ich nicht gerechnet.«
»Ich auch nicht«, wisperte Harriet. Sie legte die Finger auf ihre Lippen, wo sie noch den Druck von Charles’ Mund und seinen Geschmack fühlte. Sie leckte mit der Zunge darüber. Charles schmeckte gut.
Dann trafen sich ihre Blicke. Seiner war so erstaunt, so fassungslos, dass Harriet, tödlich verlegen, mit einem nervösen Kichern herausplatzte, während Charles todernst blieb.
»Ein Glück, dass das niemand gesehen hat, Harriet. Sonst müssten wir jetzt auf der Stelle heiraten.« Ob es ihm nun passte oder nicht. Wie hatte er nur so unvorsichtig sein können!
Harriet nickte langsam. Sie wirkte nicht sehr überzeugt.
»Wir sehen uns dann nach meiner Rückkehr.« Vielleicht. Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ging rasch hinaus.
4. Kapitel
A ls Charles von seiner Reise nach Sumatra zurückkehrte, betrat er nur ungern das Haus, in dem er so viele Jahre mit seinem Vater gelebt hatte. Als James Daugherty vor knapp dreißig Jahren nach Kalkutta gezogen war, hatte er den palastartigen Bau einem ehemaligen Mitglied der East India Company abgekauft und noch weiter ausgebaut. Er bestand aus weitläufigen Zimmerfluchten, einem Park und den Stallungen, denen sich kleinere Hütten für die Diener anschlossen.
Charles stieg langsam die breite Marmortreppe hinauf, wobei sein Blick zu der einzigen Tür glitt, die verschlossen war. Dahinter befanden sich die Räumlichkeiten seines Vaters. Er hatte sie nach James Daughertys Tod versperrt und nicht mehr betreten. Jetzt blieb er davor stehen und zog den Schlüssel hervor. Noch zögerte er, dann schloss er auf und trat ein.
Dumpfer Geruch schlug ihm entgegen. Er ging durch den kleinen Vorraum, und kurz bevor er das Schlafzimmer betrat, blieb er stehen. Fast erwartete er, das Rasseln der Kette zu hören, an der sein Vater den jungen Tiger gehalten hatte. Es war das fast erwachsene Junge der Tigerin, die James Daugherty gejagt und erlegt hatte. Bevor sie starb, hatte sie ihn selbst tödlich verwundet. Allerdings hatte er lange Wochen gebraucht, um endlich zu sterben. Und dann …
Charles holte tief Luft und trat ein. Alles war still. Er spürte ein Würgen im Hals, wenn er sich daran erinnerte, wie man ihn gerufen und er das Zimmer betreten hatte. Noch immer glaubte er, den erstickenden Geruch von Tod hier drinnen einzuatmen, obwohl die Diener das Blut schon vor Jahren weggewaschen hatten und die Toten längst begraben waren.
Er durchquerte mit schnellen Schritten den Raum und stieß die geschnitzten Fensterläden weit auf. Gleißendes Licht und ein Schwall, heißer, von den Düften des Gartens durchsetzter Luft drangen herein. Charles atmete tief durch, drehte sich um und lehnte sich gegen das Fensterbrett. Sein Blick glitt über das Bett, in dem sein Vater sich – wenn er nicht mit Opium betäubt war – vor Schmerzen gewunden hatte. Es war nun leer bis auf das Bettgestell. Charles hatte die Laken und Matratzen entfernen und verbrennen lassen. Er wandte sich der Ecke neben dem Eingang zu. Der Arzt hatte den Hausherrn tot im Bett vorgefunden, mit Schaum vor dem Mund, die Augen hervorquellend. Von dem stummen Diener und Leibwächter war lediglich ein blutiger, zerfetzter Körper übrig geblieben. Der Tiger hatte ihn zerfleischt.
Charles hatte den jungen Tiger erschießen lassen. Er hatte die Idee seines Vaters, das fast ausgewachsene Tier in seinem Schlafzimmer zu halten, verrückt gefunden. Aber das war typisch für James Daugherty gewesen, den man besser unter dem Namen El Capitano gekannt und gefürchtet hatte.
Charles hatte sich oft gefragt, wann seine Mutter dahintergekommen war, dass ihr Gatte all sein Vermögen auf Mord und Raub aufgebaut hatte.
Rachel Daugherty war ebenfalls in diesem Palast gestorben. Charles war damals acht Jahre alt gewesen. Er hatte ihr lange nicht verziehen, dass sie ihn hier mit
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