Die Sehnsucht des Freibeuters: Er war der Schrecken der Meere - doch sein Herz war voller Zärtlichkeit. Roman (German Edition)
stärker. Charles räusperte sich.
»Nun …«, setzte Ramirez mit einem belustigten Funkeln in den Augen an, wurde jedoch von Charles’ unterkühlter Stimme unterbrochen.
»Sprechen wir doch nicht von diesen unangenehmen Dingen.«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete Ramirez lächelnd. Harriet grinste leise in sich hinein. Die Vorstellung, am Galgen zu baumeln, war für Charles gewiss nicht sehr ergötzlich.
»So, Sie reisen also nach Boston, Señorita.« Die Bereitwilligkeit, mit der Ramirez auf den Themenwechsel einging, überraschte Harriet keinesfalls. »Auch ich habe Freunde dort. Ganz besondere Freunde sogar. Es wäre mir eine Freude, wenn Sie ihnen Grüße überbrächten, falls es Ihnen nicht zu viele Umstände macht, sie aufzusuchen.«
»Das wird leider der Fall sein.« Jetzt klang Charles nicht mehr kühl, sondern eisig. »Ich glaube auch kaum, dass Miss Dorleys Familie in denselben Kreisen verkehrt wie Ihre Freunde, Ramirez.«
Das dachte Harriet auch nicht, aber es war ihr eine Genugtuung, Charles sich winden und zappeln zu sehen. Und das tat er, auch wenn er nach außen so ruhig wirkte. Aber sie kannte ihn mittlerweile gut genug, um die Art, wie sich seine Stimme verändert hatte, richtig zu deuten. Sie strahlte Ramirez an. »Es wird mir doch eine Freude sein«, versicherte sie eilig. Er konnte sogar Gift drauf nehmen, dass sie liebe Grüße überbringen würde, und zwar an die Behörden, die diese Menschen dann ausräucherten. Und El Capitano, diesen verlogenen, miesen, lügnerischen Kerl gleich dazu! Vorausgesetzt natürlich, sie erreichte Boston in diesem Leben noch. Im Augenblick hatte die Vorstellung, Charles mit heraushängender Zunge an einem Strick baumeln zu sehen, etwas durchaus Attraktives.
Nun, vielleicht doch nicht so attraktiv. Sie schob das erschreckende, schmerzhafte Bild rasch weg.
»Wenn Sie mir den Namen Ihrer Freunde sagen, so werde ich nicht zögern, sie aufzusuchen.« Sie sah, dass Lan Meng sich ein wenig vorbeugte. Offenbar hatte sie dieselbe Idee.
Die Stuhllehne krachte schon bedenklich. Noch ein wenig mehr, und das Holz würde brechen.
»Es handelt sich um Admiral Robert McRawley und seine Familie.« Ramirez’ Gesicht zeigte einen Ausdruck von Stolz.
»R… Robert McRawley?«, stotterte Harriet.
Ramirez nickte so heftig, dass Bauch und Schnurrbart mitwippten. »Robert McRawley und ich kennen uns schon seit sehr vielen Jahren. Schon bevor die Vereinigten Staaten ihre Unabhängigkeit errungen haben. Seitdem haben wir nicht mehr so viel Kontakt. Er betreibt nun eine Handelsgesellschaft, aber wann immer eines seiner Schiffe diesen Hafen anläuft, gebe ich eine Nachricht mit. Und gelegentlich habe ich sogar die Ehre, von seiner Gattin ein freundliches Schreiben zu erhalten. Ich konnte ihr einmal einen Dienst erweisen.« Ramirez sonnte sich in dieser Erinnerung.
Harriet hatte sich inzwischen gefasst. Der verkommene Kerl hatte mit Ramirez über die Familie ihres Vaters gesprochen. Vermutlich hatten sie sich auch ausführlich darüber unterhalten, wie sie Harriet in dieser Beziehung nutzbringend verwenden konnten. »Welch ein Zufall, Señor«, sagte sie mit einem falschen Lächeln. »Robert McRawley ist der Gatte der Cousine meines Vaters. Ihr gilt mein Besuch!« Grimmig sah sie die Überraschung in Ramirez’ Augen. Der Kerl verstand zu schauspielern. Fast so gut wie sein Spießgeselle Charles Daugherty. Harriet wäre am liebsten aufgesprungen, hätte den Stuhl gepackt und ihn an Charles’ Kopf zerschlagen. Sie mussten sie für sehr dumm halten. Aber so einfältig, wie diese Männer dachten, war sie auch wieder nicht. O nein, wahrhaftig nicht. Sie spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen.
Charles hatte Ramirez keine allzu lange Audienz gewährt, sondern bald kurzen Prozess gemacht, den ehemaligen Piraten mehr kurz als höflich verabschiedet und ihn vor das Hotel begleitet, um sicherzugehen, dass er auch bestimmt in seine Kutsche stieg.
Harriet war im Salon geblieben, um dort auf Charles zu warten. Als er eintrat, stand sie hocherhobenen Hauptes mitten im Raum und sah ihm entgegen. Er schloss leise die Tür hinter sich und blieb daneben stehen, Harriet im Auge behaltend.
Sie setzte ein harmloses Gesicht auf. Jetzt war der Moment, in dem sie ihn belügen musste, um ihn in die Falle zu locken, so wie er sie in die seine gelockt hatte. Vielleicht musste er ja nicht gleich hängen, im Kerker hatte er länger und besser Gelegenheit, über seine Schandtaten
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