Die Sehnsucht ist größer
vergewissern, daß zuhause alles okay ist.
Gleich geblieben sind wohl nach wie vor die Anstrengungen, die Blasen an den Füßen - oder plötzlich auftretende Kniebeschwerden.
Jean Vanier schreibt: Jeder von uns muß seinen eigenen, verborgenen Rhythmus finden, um sich ausruhen, entspannen und regenerieren zu können, denn jeder Körper ist anders.
Vielleicht will die Sache mit dem Knie auch einfach nur signalisieren, daß ich noch ein bißchen zur Ruhe kommen muß, mich entschleunigen muß, aus dem Machen herauskommen muß, um frei und damit offen zu werden für das, was dieser Weg noch für mich bereit hält. Möglicherweise gilt es zu lernen, mit meinen Kräften rücksichtsvoll umzugehen - und liebevoll mit mir selbst zu sein, wenn die Kräfte eben nicht ausreichen.
Im Alltag tue ich das oft nicht. Da nimmt die Arbeit oft einen solchen Raum ein, daß die Entspannung zu kurz kommt. Ich mache meine Arbeit ausgesprochen gern, ich sehe viel Sinn in dem, was ich tue. Es ist nicht einfach nur ein Broterwerb, ich lebe in einer Form von Ganzheitlichkeit, die ich mit keinem anderen tauschen möchte. Aber auch die schönste Arbeit braucht Ruhepausen und Erholungsphasen.
»Um das zu erreichen, müssen wir entdecken, wie wir das Aktive und Passive in uns in Einklang bringen können. Wenn wir nur das Tun im Auge haben und uns für schrecklich verantwortlich und ernst halten, werden wir eines Tages durchdrehen.
Wir müssen das Passive in uns stärken: Unser Herz, das für eine persönliche Liebe geschaffen ist. Wir müssen lernen, dem anderen zuzuhören, über die Natur zu staunen, uns einen Augenblick in der Gegenwart Jesu auszuruhen und zu erholen, die Liebe unserer Mitmenschen zu empfangen und uns von ihrem Vertrauen stärken zu lassen, wir müssen lernen, das Alltägliche zu genießen, uns nicht zu ernst zu nehmen und zu akzeptieren, wie Kinder zu werden.«
Vielleicht soll ich gerade jetzt lernen, etwas nicht perfekt zu machen, sondern mich damit zu versöhnen, daß auch Unvollkommenes schön sein kann - wenn man etwas daraus macht. Vielleicht gilt es, Abschied zu nehmen von meinen Allmachtsphantasien.
»Jeder muß seinen eigenen Sabbat ausfindig machen, seine wirkliche Stärkung. Das ist für diejenigen unter uns umso wichtiger, die dazu aufgerufen sind, mit vielen Spannungen und Streß zu leben. Dieses Angespanntsein, das wir im Zusammenleben mit verwundeten Menschen erfahren, kann Wachstum verhindern und Wut und Erschöpfung auslösen, eine Tatsache, die nicht immer erkannt und eingestanden wird.«
Puente la Reina, 21.00 Uhr
Die Verständigungsprobleme mit der Kellnerin vorhin beim Abendessen haben mich etwas genervt. Ich kann ja verstehen, daß es den Menschen hier auch nicht paßt, daß permanent Fremde ihren Ort als Durchgangsstraße benutzen - aber genau diesen Fremden verdanken diese Orte letztlich ihre Existenz, sowohl historisch wie aktuell. Als ich mich im letzten Advent mit dem Thema »Heimatlosigkeit« beschäftigte, sagte Manfred mal sinngemäß: Wer aufbricht, die Heimat verläßt, der ist auch irgendwie stark. Und wenn solche Menschen zu denen kommen, die »zuhause« geblieben sind, kann das wiederum Angst machen und Abwehr erzeugen.
Das ist ja eigentlich paradox, und ich bin auch damals schon darüber gestolpert: Ich bin hier ganz allein in der Fremde, ohne große Möglichkeiten der Verständigung, abhängig vom »good-will« derer, die hier zuhause sind, ich fühl mich schwach und verletzbar — und erlebe diejenigen, die hier zuhause sind, als stark, mächtig, sicher. Aber inwieweit bin ich möglicherweise zugleich in meiner Schwachheit eine Anfrage an ihre Lebensform? Hier ziehen am Tag 40, 50 Pilger durch - eine permanent installierte Anfrage für diejenigen, die hier leben. Wie lebt man richtig? Und wer lebt richtig? Haben die recht, die hier hindurchziehen, oder haben die recht, die hier wohnen und bleiben und gar nicht auf so verrückte Ideen kommen? Zwei Welten treffen aufeinander, zwei verschiedene Weisen, das Leben zu leben.
Ich kann mir gut vorstellen, daß Menschen, die nicht in sich ruhen, nicht gefestigt sind, auf die durchziehenden Pilger auch mit Abwehr reagieren müssen - und daß andererseits für manche Pilger die Versuchung groß sein mag, irgendwo zu bleiben. Das Anders-Sein des anderen stellt immer die eigene Identität in Frage - oder stärkt sie, je nachdem.
Ich erlebe im Moment die Spannung in mir - Pilgerin sein, ohne gehen zu können, unterwegs sein wollen und doch
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