Die Sehnsucht ist größer
loszustürzen. Der Kulturschock macht sich auf unterschiedlichste Weise bemerkbar, daher müssen auch die Menschen geduldig und behutsam mit sich umgehen. Sie müssen immer wieder daran erinnert werden, daß sie nicht hauptsächlich fürs MACHEN gekommen sind, sondern um das SEIN zu erlernen, und daß sie nicht wie ein Ingenieur kommen sollen, ausgerüstet mit dem Handwerkszeug des Wissens und der Theorie, um zu reparieren, was kaputt gegangen ist.
Sie müssen sich auf der Suche nach einem Geheimnis befinden, das wie ein Schatz im Acker verborgen ist: dem Geheimnis der kostbaren Perle; oder müssen wie ein Kind sein, das im Begriff ist, ein wunderschönes Geschenk zu bekommen - das Geschenk der zwischenmenschlichen Beziehung, das Geschenk der Freundschaft, das Geschenk des Lichtes, der Liebe und der Weisheit, das in den Herzen der Armen und Einsamen, der Kranken und Blinden und all derer verborgen ist, die verwundbar sind und nichts mehr zu verlieren haben. Sie müssen wie ein staunendes Kind kommen.
Montag, 9.6.
Boadilla, 10.30 Uhr
Jetzt bin ich aber grad selbst überrascht - in zwei Stunden von Itero de la Vega nach Boadillo - und dabei habe ich noch eine Viertelstunde Pause dazwischen gemacht. Zumindest auf den flachen Strecken scheine ich in den Pilgerschritt gekommen zu sein. Da läßt sich hier beruhigt Pause machen, wenn der Großteil der Tagesstrecke schon geschafft ist.
Eine ganz leichte Steigung gab es eben nochmal auf dem Weg - und auf der Höhe wieder einmal ein neuer Horizont. Dem Wanderführer nach wird es jetzt die nächsten Tage nur noch durch Ebene gehen. Auch heute hat der Führer bisher recht gehabt - 8,5 km Piste bis hierher, kein Schatten, ich war schon um 9.00 Uhr klatschnaß geschwitzt. Der Weg ging durch endlos weite Getreidefelder, eine grüne Weite um diese Jahreszeit - lästig waren die vielen kleinen schwarzen Fliegen.
Ich habe schlecht geschlafen, ich weiß auch nicht, warum. Um sechs Uhr morgens habe ich mich vors Refugio gesetzt und eine Zigarette geraucht - im Osten ganz schwach das Morgenrot, eine Fledermaus huscht an mir vorbei, oben am Himmel ein hell leuchtender Stern. Mir fällt das Schriftwort ein: »... bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in eurem Herzen.« Wo steht das nochmal - und in welchem Kontext? Ich bin ganz froh, daß die Nacht vorbei ist, vor mir liegt ein neuer Tag, von dem ich nicht weiß, was er bringen wird, ich freu mich, habe ein bißchen Bammel, bin neugierig.
Plötzlich Szenenwechsel - als habe irgendwo ein Wecker geklingelt - Spatzen tschilpen auf der Straße umher, Schwalben segeln elegant durch die Luft - es wird Tag.
Frómista, 14.30 Uhr
Immerhin - ich bin schon geduscht, vor mir steht ein Bier, irgendwas zu essen ist bestellt - und angeblich soll ich in dem Nichtraucher-Zimmer auch rauchen dürfen, ohne daß der beeindruckende Rauchmelder an der Decke losgeht.
In Boadillo habe ich noch den Pranger gesucht, den der kleine Führer als so interessant beschrieben hat. Ob es diese ominöse Säule vor der Kirche war? Irgendwie - unter einem Pranger habe ich mir eigentlich was anderes vorgestellt. Man lernt auf dem Weg, auch mit »Lücken« zu leben - gerade die so interessante Kirche hat heute geschlossen, im Kloster hält man Siesta, dort wird renoviert - und so geht man halt weiter, auch wenn man unbedingt das oder das gesehen haben wollte - und auch nicht weiß, ob man in seinem Leben überhaupt nochmal hierher kommen wird.
Der Weg war schön - hinter Boadillo führte ein kleiner Graben am Weg entlang. Bei einem lauten Platschen bin ich ziemlich erschrocken, aber dann wurde mir schnell klar, daß hier Hunderte von Fröschen wohnen, die bei meinem Näherkommen eilig, und damit entsprechend laut, Hals über Kopf ins Wasser springen. Und es gab wunderschöne Libellen, in Farben, wie ich sie noch nie gesehen habe.
Der Weg ging am Kanal entlang, einem alten Bewässerungssystem. Die Strecke hat mich ein bißchen ans Emsland oder an Holland erinnert - und mir hat diese Nähe des Wassers gut getan. Es war einfach schön zu gehen... und tatsächlich, nach gut einer Stunde war ich in Frómista.
Als allererstes mußte ich meine bisher so sichere Überzeugung korrigieren, daß Störche nur dort wohnen, wo es hübsch ist: Hier nisten sie tatsächlich auch auf einem total langweiligen und unattraktiven Lagerhaus. Wohnungsnot bei Störchen? Alle Kirchtürme bereits besetzt, Landen auf St. Martin nicht gestattet...? Wer
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