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Die Sehnsucht ist größer

Die Sehnsucht ist größer

Titel: Die Sehnsucht ist größer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schwarz
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einer alternativen Übersetzung kommt mir in den Sinn. Vielleicht: Gott bleibt im Wandel, wandelt sich im Bleiben. Geheimnis des Glaubens - deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit... wandeln und bleiben, werden und sein - Einladung zur Nachfolge?
    Was wandelt sich in mir, bei mir in diesen Tagen? Und was bleibt?
     
    Frómista, 23.00 Uhr
    Ich krieg’s noch nicht ganz auf die Reihe - verwundbarer, berührbarer, weil ich stärker geworden bin? Stärker geworden, weil ich berührbarer geworden bin? Ist die Stärke die Berühr-barkeit, die Berührbarkeit die Stärke?
    Da gibt’s doch irgendeine Schriftstelle: Denn wenn ihr schwach seid, dann seid ihr stark.
    Es gibt ganz viele Schriftstellen, die dazu passen: die Seligpreisungen heute abend, »selig seid ihr, wenn ihr arm seid,...«, »die letzten werden die ersten sein...«, »wenn ihr nicht werdet wie die Kinder... « - Schwäche, Grenzen, Wunden, Gebrochenheit, Kleinheit werden zu Stärke, Weite, Liebe, Verständnis, Freiheit...
    Es ist spannend - das Buch von Jean Vanier hat mich die ganzen Tage begleitet. Aber Textstellen, die ich vor einigen Tagen noch überlesen habe, werden mir im Moment wichtig. Andere, die ich angestrichen habe, sagen mir heute nichts mehr.
    Irgendwas ist anders geworden...
    Die Menschen warten auf jemand, der selbst verwundbar genug ist, um zu lieben, und so die kostbare Perle entdeckt.
     
     

Dienstag, 10.6.
     
     
    Población de Campos, 11.00 Uhr
    Heute ist eindeutig nicht mein Tag. Ich habe zwar hervorragend geschlafen, aber irgendwie scheint der Wecker heute nacht mal ausgesetzt zu haben, oder ich hab ihn beim Stellen verdreht, ich bin jedenfalls erst um 8.00 Uhr aufgewacht - und dann war auch der Schweinehund wieder da. Er hatte zwar nur Dackelgroße heute morgen, aber er kläffte umso lauter: Es wäre doch auch ganz schön, mal wieder an einem Ort für einen Tag zu bleiben - zumal es draußen regnet.
    In einer solchen Stimmung tut es mir gut, erst einmal in der Bar zu frühstücken, bevor ich irgendeine Entscheidung treffe. Orangensaft, Café con leche, ein Croissant - und als dann auch noch der Regen aufhört, sieht die Welt schon wieder anders aus. So gehe ich schließlich doch ans Packen.
    Um Viertel nach zehn bin ich losgekommen. Die 3,5 km bis hierher gingen sich zwar flott - aber es war eine langweilige Strecke. Die Augen hangelten sich von Busch zu Busch, vom Überholverbotsschild zum nächsten Wegpfosten. Hier war schon die berühmte »Pilgerautobahn« zu bewundern: eine sauber angelegte Trasse für die Pilger, drei Meter parallel zur Straße. Vielleicht ganz praktisch, auf jeden Fall sicherer als die Straße -aber trotzdem irgendwie langweilig.
     
    Villalcázar, 15. 00 Uhr
    Die Strecke erforderte heute eine gewisse Beharrlichkeit und einen langen Atem. Es war nur Pilgerautobahn entlang der Straße. Und wenn es heiß gewesen wäre, hätte ich mein spätes Wegkommen ganz schön büßen müssen. So ging es (sich) ganz gut.
    Ansonsten gibt es nichts Außergewöhnliches zu berichten. Das Kantabrische Küstengebirge tauchte, wie im Wanderführer versprochen, am Horizont auf - und heute hatte ich fast das Gefühl, alleine auf dem camino unterwegs zu sein.
     
    Carrión de los Condes, 17.00 Uhr
    Zu meiner großen Überraschung habe ich das erste Paar Wandersocken durchgelaufen. Vorhin lachte mich der linke große Zeh durch ein Loch an - und dem rechten Socken gebe ich noch maximal einen Tag. Ich hätte ja mit vielem gerechnet - aber daß solche Wandersocken richtige Löcher bekommen können, das hatte ich gar nicht in Erwägung gezogen.
     
    Carrión de los Condes, 21.15 Uhr
    Ich finde es faszinierend, fast jeder Gottesdienst, an dem ich hier teilnehme, hat irgendwas, was mich tiefbewegt.
    Ich hatte das Stundenbuch mitgenommen und wollte in der Santiago-Kirche die Vesper beten. Als ich um Viertel nach acht hineingehe, komme ich in eine dunkle Kirche. Nur im Altarraum brennen einige Kerzen. Undeutlich erkenne ich einige Umrisse und setze mich in eine Bank. Und ich denk noch, den Rosenkranz können sie auswendig, dazu brauchen sie kein Licht.
    Ich schlage die Vesper auf und freu mich am Hymnus: »Die Sonne eilt dem Westen zu« — und denke an das, was Roland Breitenbach in seinem Santiago-Buch so schön beschrieben hat und was mir in den Tagen oft durch den Kopf geht: Der Schatten ist fast wie eine Sonnenuhr. Wenn ich nach Westen gehe, ist er am Morgen lang ausgestreckt

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