Die Sehnsucht ist größer
vor mir, am Mittag ziemlich klein mir zur Seite, am Abend hinter mir. An der Länge und am Stand des Schattens läßt sich ungefähr ablesen, wie spät es gerade ist.
»Ermüdet von des Tages Last...«, auch die Zeile des Hymnus kann ich heute abend leibhaftiger beten als sonst - und ich bin mir sicher, daß mich die Zeilen zukünftig an diesen Abend in Carrión erinnern werden.
Ich blättere um und schmunzle - da ist die Antiphon, die mich vor gut einem Jahr so berührt hat: Du kannst nicht Gott dienen und zugleich dem Mammon. Damals stand ich vor der Frage, was Gott von mir will. Soll ich weiterhin freiberuflich auch im Wirtschaftsbereich arbeiten und entsprechend viel Geld verdienen - oder ist mein Ort bei den Menschen in dieser Kirche. Und mit der Entscheidung für das Theologiestudium stand die Frage im Raum, ob es gerade dann sinnvoll ist, diese Kurse im Wirtschaftsbereich aufzugeben. Sollte ich sie nicht vielmehr dazu nutzen, um damit mein Studium zu finanzieren? Auch in der geistlichen Begleitung haben wir lange darum gerungen, wieviel Absicherung ich brauche, oder ob ich auch im Vertrauen auf Gott einfach loslassen kann. Nach einem solchen Gespräch habe ich abends die Vesper gebetet - und als ich umblätterte und genau die Antiphon fand, hat das den Ausschlag gegeben. Du kannst nicht Gott dienen und dem Mammon.
An den Abend denke ich zurück - und daß meine Entscheidung, nach Santiago zu gehen, damit zusammenhängt -, ich habe mich neu für Gott entschieden, für ein Engagement in dieser Kirche, das Theologiestudium - »I have new fallen in love to God - and I’m going to celebrate it!«.
Es ist viel, was mir da alles durch den Kopf ging. Und dann betete ich den Psalm 49 - »Denn man sieht, Weise sterben, genauso gehen Tor und Narr zugrunde. Der Mensch bleibt nicht in seiner Pracht, er gleicht dem Vieh, das verstummt. So geht es denen, die auf sich selbst vertrauen. Der Tod führt sie auf seine Weide wie Schafe, sie stürzen hinab zur Unterwelt. Geradewegs sinken sie hinab in das Grab, die Unterwelt wird ihre Wohnstatt. Doch Gott wird mich loskaufen aus dem Reich des Todes, ja, er nimmt mich auf.«
In der dunklen Kirche habe ich ein wenig Mühe, die Worte zu lesen - aber es geht gerade noch. Und als der Rosenkranz beendet ist, kann ich auch das Stundenbuch wieder in der Plastiktüte verstauen. In der Kirche herrscht andächtige Stille, nur unterbrochen vom Lärm draußen auf der Straße - und einem wissensdurstigen Pilger, die Jakobsmuschel auf der Brust, der die Kirche durchstreift, sich die Figuren ansieht, die Brille hervorzieht, um die Inschriften zu lesen. Manchmal wundere ich mich schon, daß die Menschen hier noch so freundlich zu uns Pilgern sind. Ich glaube, manchmal wird auch ihre Geduld und Toleranz auf eine harte Bewährungsprobe gestellt.
Als die anderen aufstehen, merke ich, daß der Priester eingezogen sein muß - irgendwie hatte ich das, weil ich sehr weit hinten saß, gar nicht so richtig mitbekommen. Und die Kirche blieb dunkel. Neugierig schaute ich mich jetzt näher um. Tatsächlich, in dieser Kirche gibt es kein elektrisches Licht. Und so wurde die Eucharistie in der Dämmerung gefeiert - eine Stimmung ganz eigener Art.
Bei der Lesung streift mein Blick durch die Kirche. Aufgrund der Dunkelheit kann ich nicht viel sehen - nur ahnen. Plötzlich stutze ich: Die alten Steinpfeiler, die das Dach trugen, stehen noch - aber das Gewölbe muß irgendwann einmal eingestürzt sein. Und als man die Kirche wieder aufgebaut hat, hat man das Gewölbe nicht wiederhergestellt, sondern ein Stahldach über die Kirche gezogen. Und so ragen die Pfeiler jetzt irgendwie ins Leere hinein, ihres eigentlichen Zweckes beraubt, und erzählen auf ihre Weise von der Vergänglichkeit menschlichen Tuns. Immer wieder zieht es meinen Blick zu diesen Pfeilern - und fast scheint es mir, als seien sie steingewordene Botschaft des Psalmes, den ich vorhin in der Vesper gebetet habe. Eine Kirche, die zur Ruine geworden ist, und der man dieses Ruinenhafte gelassen hat als Botschaft für die Menschen... die Botschaft der Vergänglichkeit allen menschlichen Tuns im Kontrast zur Ewigkeit des Reiches Gottes. Eine Kirchenruine im Dämmerlicht, in der Eucharistie gefeiert wird... das berührt mich tief.
Im Wanderführer steht: »Die Kirche ist vor kurzem restauriert worden. Die Restaurierung ist umstritten.« - Ich bin dafür.
Mittwoch, 11.6.
Carrión de los Condes, 9.30 Uhr
Um 7.00 Uhr lachte mir die
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