Die Sehnsucht ist größer
ganz schöner Tag heute - aber auch ein anstrengender. Römerstraßen mögen den Vorteil haben, daß sie alt sind - aber sie sind auch ausgesprochen stolprig. Am Schluß haben mir die Füße und die Beine doch ganz schön weh getan.
Spannend finde ich, wie sich meine Vorstellung von einer Landschaft, einer bestimmten Strecke von dem unterscheidet, wie es dann wirklich ist. Nach den Wanderführern hatte ich eine öde Landschaft erwartet, menschenleer, brachliegend, braun, vertrocknet. Und ganz sicher hat auch das Bild von Sieger Köder »Durch die Meseta« mit zu dieser Vorstellung beigetragen. Stattdessen bin ich stundenlang durch grüne Getreidefelder gelaufen, an den Wegrändern blühen Blumen in einer Pracht und Vielfalt, daß man sie in deutsche Vorgärten verpflanzen könnte. Zwischendrin bin ich an diesem Unterschied zwischen Realität und Vorstellung fast irre geworden - und hab mich gefragt, ob ich hier wirklich durch die Meseta laufe? Das finde ich eine spannende Frage: Was mache ich, wenn meine Vorstellungen zerbrechen, sich die Wirklichkeit als vollkommen anders erweist?
Es ist wunderschön hier. Ich war lange Strecken allein, aber das erlebe ich nicht als belastend, ganz im Gegenteil. Ich war nicht einsam. Durch diese kultivierte Landschaft habe ich mich mit den Menschen verbunden gefühlt, die Pyrenäen waren da durchaus einsamer - und auch die Strecke zwischen Tardajos und Hontanas habe ich anders erlebt.
Heute waren die Weite und der Wind mit mir - angenehme Weggefährten durch den Tag. Der Wind hat die Wolken vertrieben, die in Carrion noch so drohend nach Regen ausgesehen haben. Und die Weite kann einen wirklich sehnsüchtig machen, sie öffnet mich. Über mir Wolkengebirge, Fetzen blauen Himmels, und wie selten zuvor spüre ich die Begrenztheit des Suchers der kleinen Kamera. Diese Weite läßt sich nicht einfangen - alles, was weitet, läßt sich nicht festhalten.
Die letzten Kilometer waren trotz aller Schönheit anstrengend. Irgendwann taucht eine Kirchturmspitze auf - aber auch das habe ich inzwischen gelernt: Was man schon sieht, kann noch eine gute Strecke entfernt sein. Ich bin ziemlich geschafft, und mir ist klar, heute geht nichts mehr. Kurz vor Calzadilla joggt von hinten plötzlich ein Mann heran, er hat zwei Trinkflaschen an den Riemen des kleinen Rucksacks festgemacht, aus denen er beim Laufen trinkt. Er pendelt seine Laufbewegung auf meine Schritte ein - und wir probieren mal wieder eine Unterhaltung auf spanisch-französisch-englisch. Er läuft seiner Gruppe nach, die er heute noch in Sahagun treffen will. Du meine Güte, das ist meine morgige Tagesstrecke... und er joggt in 40-km-Etappen nach Santiago.
Bevor es nach Calzadilla hinabgeht, 200 Meter vor dem Ort halte ich inne. Noch deutlicher als in Hornillos, wo ich ja schon einmal auf einer Anhöhe saß und nicht so recht weiterziehen wollte, erlebe ich die Spannung in mir - ich will endlich in die Geschütztheit eines Refugios, will wissen, wo ich heute nacht bin - und kann zugleich diese Weite nicht verlasssen. Ich sitze eine halbe Stunde dort oben, schaue auf das Dorf hinab, bin müde, sehne mich nach einer Dusche - und komm doch nicht los von dort.
Schließlich raffe ich mich auf - eher Verstandes- als herzmäßig. Das Refugio hat zu - und so suche ich die Bar, die es in diesem Ort geben soll. Sie ist nicht zu verfehlen. Die alten Pilgerstraßen ziehen gerade durch den Ort hindurch. Die Pilgerstraße wurde zur Hauptstraße. Aber die Bar ist vor allem deshalb nicht zu verfehlen, weil an einer Wegkreuzung die gelben Pfeile eindeutig nach links weisen, obwohl die Hauptstraße geradeaus geht, an der nächsten Gabelung zeigen sie nach rechts - und dann steht man vor der Bar. Eigentlich fehlt nur noch der gelbe Pfeil auf der Türschwelle, um einen in die Bar hineinzugeleiten. Ich bin ein bißchen neugierig geworden und gehe ein paar Schritte weiter - richtig, an der nächsten Kreuzung, geht der Pfeil wieder nach rechts, zurück zur Hauptstraße. Ich schmunzle ein wenig - es menschelt mächtig auf dem camino.
Als ich noch mit meinem Rührei mit Schinken beschäftigt bin, kommen zwei junge Amerikaner und holen sich den Schlüssel fürs Refugio.
Als ich etwas später hingehe, sind zwei Pilger mit ihren Pferden angekommen. Sie sind Anfang April in Lüttich gestartet, eine junge deutsche Frau, ein älterer Belgier, zwei sehr ruhig und abgeklärt wirkende Pferde. Bis jetzt haben sie ungefähr 2000 km zurückgelegt. Die Pferde weiden
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