Die Sehnsucht ist größer
bis zum Rasierpinsel und Zahnbürste mit Grußbotschaft. Weiß der Himmel, was die jeweiligen Pilger damit verbunden haben, es mag eine eigene Bedeutung haben, die Fremden wohl nicht nachvollziehbar ist. So wird aus dem cruz de ferro fast eine Art Kultbaum. Christiane hat dort oben ihre Muscheln am Rucksack befestigt - für sie das Zeichen, sich in die Reihe der Pilger einzureihen. Und das gestrige »Schwächeln« ist vorüber. Wir beide sind ganz gut in Gang gekommen.
Die Stimmung hier in Manjarín zu beschreiben, ist fast unmöglich. Das Gewitter tobt so, daß es mich immer wieder vor die Hütte lockt, mich verführt, mich dem Sturm und dem Regen auszusetzen - und mich zugleich die Geborgenheit der Hütte schätzen läßt, in der der kleine Kanonenofen bullert, der junge Hund grad »Bernhardiner« spielt, und sich dauernd mit Charly, dem kleinen Pinguin an meinem Rucksack, anlegt. Tomás hat irgendeine Kassette aufgelegt, die sich sehr irisch anhört, es gibt Kaffee, aus der Milch muß man die Fliegen herausfischen. Tomas kocht, Christiane und Mick machen den Salat - plötzlich steht ein Rotwein als Aperitif auf dem Tisch. Wir sind hier in einem alten Steinhaus in einem ansonsten verlassenen Ort, die Mauern sind 50 cm dick, von der Decke hängen zwei oder drei große Schinken, alles ist nicht so besonders klinisch sauber, aber ausgesprochen gemütlich - und es liegen Welten zwischen der Nacht in Astorga und dieser Berghütte. Hier spüre ich etwas von dem alten camino - und hier berührt mich was.
Samstag, 21.6.
El Acebo, 10.30 Uhr
Sommeranfang in den Bergen von Leon - 8 Grad am frühen Morgen, Wolken, Nebel, Regen, Sturm - ein grandioser Tagesbeginn. Und die Nacht in der Hütte war nur gut. Mit meinem Knie habe ich mich die Hühnerleiter nicht hochgetraut, die unters Dach führte, wo die anderen geschlafen haben. So blieb ich unten im großen Raum, zusammen mit Tomas und dem kleinen Junghund.
Als Tomás sich mit all seinen Klamotten inclusive Parker ins Bett legte, war klar: Schlafenszeit. Draußen tobte der Sturm, es regnete, ab und an bellten die Hunde, den kleinen hatte Tomas zu sich ins Bett genommen. Irgendwann klopfte es, so gegen elf Uhr nachts. Tomas ging an die Tür: Wer ist da? -Peregrino! Tomas öffnet, ein junger Mann, vollkommen durchnäßt, kommt herein, Tomas weist ihm den Schlafplatz zu, fragt, ob er noch etwas zu essen haben will. Derweil landet der junge Hund in meinem Bett - und es ist durchaus angenehm, seine Wärme zu spüren, ihn streichelnd zu beruhigen, sein Atmen zu hören. Ab und an jaunzt er ein bißchen vor sich hin, läßt sich wieder beruhigen - und ich hoffe nur, daß er schon soviel Anstand hat, daß er nicht ins Bett, sprich: meinen Schlafsack, macht.
Irgendwie ist es unwirklich: der jagende Sturm, die bellenden Hunde, der trommelnde Regen auf dem Dach. Mit einem kleinen, jungen Hund kuschele ich mich in meinen Schlafsack...
Am Morgen kocht Tomás Kaffee, alle miteinander hocken wir um den großen Tisch. Der erste Gang hinaus vor die Tür ist wenig vielversprechend: Regen, Wind, tiefe Wolken, 20 Meter Sicht. Ein Blick in die Laudes: »Die Weisheit kennt alle Werke des Schöpfers, sie wohne bei uns und teile mit uns alle Mühe.« Das scheint mir durchaus passend für diesen Tag und erinnert mich an den Morgen in Bayonne - ich bin tatsächlich schon vier Wochen unterwegs.
Nagut - Mindeststrecke ist Acebo, wenn’s halbwegs läuft, können wir Molinaseca anpeilen - gut wäre es, wenn wir bis nach Ponferrada kämen - und dort wäre ich sehr bereit, mal wieder in ein Hostal zu gehen. Die letzte warme Dusche gab es in León - und daß ich die vergangene Nacht in meinen Klamotten, inclusive Junghund, geschlafen habe, macht mich auch nicht gerade sauberer.
Zum Frühstück hat Tomas eine Taize-Kassette aufgelegt. Es ist irgendwie irreal - Frühstück in den Leoner Bergen auf einer Berghütte, vertraute Taizé-Gesänge - und mitten in der Fremde fühl ich mich zuhause.
Es war eine faszinierende Nacht dort in den Bergen, ich habe schwer Abschied genommen - und Christiane fiel der Abschied wohl noch ein bißchen schwerer. Tomas hat uns mit seiner großen Glocke noch »abgeläutet« - und dann waren wir wieder unterwegs.
Der Weg nach El Acebo war schön. Angesichts des Wetters sind wir auf der Straße geblieben - und da war kaum ein Auto. Stattdessen hatten wir Wind und Sturm, Wolken und Nebel, ab und an riß der Himmel auf, zeigte ein blaues Loch und eine
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