Die Sehnsucht ist größer
umherstanden, die Markierung suchten, tönte von irgendwoher ein Pfiff und jemand wies uns mit Armschwenken den Weg. Es gab fast keine Chance, in der Stadt zu bleiben, sich zu verirren.
Wegmäßig war es heute kein besonderes »highlight«. Viele Vororte, immerhin die Bars an der richtigen Stelle, es war okay so. Highlight dagegen ist Villafranca, ein hübsches kleines Städtchen in einem Tal. Als wir ziemlich müde und ein bißchen erschöpft an der Santiago-Kirche ankamen und eine Zigarette rauchen wollten, kam ein Mann und schloß die Kirche auf. Die Kirche ist ausgesprochen schön, schlicht, faszinierend, eine Kirche, in der ich gut beten kann. Kurz nachdem wir hinausgegangen waren, schloß er die Kirche wieder ab, so, als habe er gerade auf uns gewartet. Der Stempel von der Santiago-Kirche ist klein und unscheinbar - aber er erinnert mich an eine schöne Viertelstunde in einer wunderschönen Kirche.
Christiane tendiert hier eher zum Hotel. Ich hätte mich zwar ganz gut auf ein Refugio, zumal auf das von Jato, einlassen können - aber ich wehre mich auch nicht gegen ein bißchen Komfort. Und da wir morgen früh noch einkaufen müssen, vor elf Uhr nicht wegkommen werden, ist eigentlich auch nicht einzusehen, warum wir uns in einem Refugio unbedingt um sechs Uhr von denen wecken lassen müssen, die sich auf den Weg machen. Heute abend haben wir dem Gottesdienst den Vorrang vor dem Duschen gegeben. Nach letzter Woche kommt es irgendwie nicht mehr so darauf an. Manches wird relativ. Der Gottesdienst war schön und schlicht und trotz der fremden Sprache vertraut.
Villafranca, 22.30 Uhr
Bei Jean Vanier finde ich nochmal Worte für mein Erleben der letzten Tage:
Das ist etwas Neues. In dieser Erfahrung von Gemeinschaft wird es keine Errungenschaften geben, keine Examenszeugnisse, die dafür bürgen, kein Endprodukt, nichts Sichtbares, an dem man sich festhalten könnte, keinen Beifall, sie ist lediglich eine leise Erfahrung der Liebe und Gegenwart Gottes. Wage ich es auszusprechen? Ja, es kann sogar eine mystische Erfahrung sein, etwas so Tiefes und Zerbrechliches, daß du - wenn du nicht vorsichtig bist - auf sie treten, sie erdrücken, sie übersehen oder daran Vorbeigehen kannst. Und doch ist es der leise Ruf Jesu, die Berührungseiner Hände, eine neu aufkeimende Liebe.
Sie entspringt dem Urgrund deines Wesens, sie läßt die Eisund Kälteschicht von innen her aufschmelzen und trägt behutsam die sorgfältig aufgebauten Mauern ab, die du aus Angst um das verwundbare Herz errichtet hattest.
Es ist wie eine Wiedergeburt des Kindes in dir: das sanfte, zärtliche, verwundbare, zerbrechliche Kind, das tief in dir verborgen ist, verdeckt durch das Geltungsbedürfnis und das Bestreben, erwachsen, klug, intelligent und beklatscht zu werden; oder von deinem Bedürfnis, dich anderen und ihren übertriebenen Erwartungen zur Wehr zu setzen. Vielleicht erlebst du zum ersten Mal, was Jesus vom Geist erfüllt sagte: »Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Kleinen aber offenbart hast.«
Jesus kommt nicht in Donner und Blitz, er kommt auch nicht im Sturm. Er kommt vielmehr in der leichten Brise am Abend. Der Geist weht ganz leicht über unsere Erde. Wenn wir nicht achtgeben, besteht die Gefahr, daß wir Gottes Gegenwart in unserem Leben nicht wahrnehmen. Denn er ist ein behutsamer Gott, ein zärtlicher, liebevoller Gott, der ganz leise Leben schenkt, weit ab von der Welt des Stolzes und der Klugheit, weit ab von den Thronen der Macht und Verwaltung, weit ab von Selbstzufriedenheit und Verteidigungsmechanismen und der Sicherheit derer, die auf niemand angewiesen sind. Er ist im Innersten unseres Wesens, in der Hülle unseres Seins, verborgen.
Starres in mir ist ins Fließen gekommen, ich baue Mauern ab, ich werde verwundbarer — lebendiger.
Montag, 23.6.
Vega de Valcarce, 18.30 Uhr
Die Tagesetappe ist geschafft. Obwohl es nur 15 km waren, fand ich sie mühsam. Durch das gemütliche Frühstücken und das Einkäufen in Villafranca sind wir spät weggekommen - und es rächt sich, wenn man 15 km nicht so ernst nimmt wie 25 km. Dazu kam, daß es viel Straßenkilometer waren - nun gut, das war unsere Entscheidung. Wir wollten nicht die neue Alternativstrecke gehen, die zwar abseits von der Straße verläuft, dafür aber länger ist und über einen Berg führt. Das landschaftlich Reizvollere lockt uns nicht an diesem Tag, wir sind eher
Weitere Kostenlose Bücher