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Die Sehnsucht ist größer

Die Sehnsucht ist größer

Titel: Die Sehnsucht ist größer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schwarz
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alles in der Welt das gehen soll. Ich kann doch in dem Zustand, in dem ich momentan bin, keine Supervisionen machen...
    Andererseits - so müde, wie ich heute mittag war, waren die Kilometersteine auch ganz hilfreich. Man hat gesehen, daß man vorankommt, und manchmal habe ich fast schon auf den nächsten Kilometerstein gewartet.
    Aber wenn ich mich entscheiden müßte - ich glaube, es »nervt« mich ein bißchen mehr, als daß es mich mental unterstützt. Ich mag das Ende noch nicht in Blick nehmen - und doch kommt es unwiderruflich näher... wie soll das nur gehen? Ich ahne darum, daß der Weg nach Santiago genauso den Weg zurück braucht. Und diesen Weg muß ich für mich noch finden...
    Einig sind sich Christiane und ich darin, wie notwendig die mentale Einstellung auf die jeweilige Tagesetappe ist. Wenn wir auf 27 km eingestellt sind, dann gehen sich diese 27 km - und wenn ich auf 15 km eingestellt bin, dann schaffen auch die es, einen ganzen Tag zu füllen. Jeder Kilometer, jeder Schritt, der zu gehen ist, will ernst genommen sein - überspringen geht nicht. Der Kilometer rächt sich. Der Cebreiro ist auch eine Gefahr -»es sind nur noch 142 km« - auch die wollen noch gegangen, bewältigt, verarbeitet, erlebt sein...
    Als ich die Schriftstellen nachschlage, finde ich beim Weiterlesen eine Stelle, die ich nach dem Erleben des heutigen Tages sehr viel leibhaftiger nachvollziehen kann:
    Auf allen Bergen werden sie weiden, auf allen Hügeln finden sie Nahrung. Sie leiden weder Hunger noch Durst, Hitze und Sonnenglutschaden ihnen nicht. Denn er leitet sie voll Erbarmen und führt sie zu sprudelnden Quellen. Alle Berge mache ich zu Wegen, und meine Straßen werden gebahnt sein. (Jes 49, 9d-11)
     
    Alto do Poio, 22.20 Uhr
    Das war ein wunderschöner Sonnenuntergang - mit ein Grund, warum ich hier oben in den Bergen übernachten wollte. Und was mich fast noch mehr fasziniert hat, waren die vielen Farbabstufungen der Grautöne der Berge.
    Ich werde so reich beschenkt - und daß die Tage zusammen mit Christiane so gut klappen, ist nochmal Geschenk. Auch das ist nicht selbstverständlich. In mir ist viel Lust am Sein - viel Kraft zum Leben.
     
    Alto do Poio, 23.00 Uhr
    Meine Sehnsucht bekommt Bilder - ich werde mich erinnern an diese Tage der Weite, der Freiheit. Diese Bilder aber sind nur Abbild meiner Sehnsucht. Ich darf die Bilder, in denen ich etwas von diesem Geheimnis Gottes ahne, nicht mit der Sehnsucht verwechseln.
     
     

Mittwoch, 25.6.
     
     
    Alto do Poio, 8.00 Uhr
    Ich bin den Tränen nahe. Alles geht mir im Moment zu schnell. Es wäre schön, hier oben noch einen Tag zu bleiben, vielleicht der schönste Ort auf der noch verbleibenden Strecke. Und mal wieder schlafen, richtig lange, am Nachmittag,...
    Ich möchte nicht, daß diese Tage Vorbeigehen - und doch habe ich keine Wahl. Damit stellt sich nochmal neu die Frage nach dem »wozu?« - wozu werden mir diese Tage geschenkt und wozu nutze ich sie? Und ich ahne, daß ich in den verbleibenden Tagen eine Antwort auf diese Frage finden muß - sonst kann ich nicht ankommen und nicht heimkommen. Wenn dieses »wozu?« keine überzeugende Antwort bekommt, dann bleiben schöne Erinnerungen, eine Sehnsucht, die kein Ziel hat, vielleicht sogar eine »camino-Süchtigkeit«, die mich immer wieder hinaustreibt. Das aber kann es nicht sein.
    Fast kommt es mir biblisch vor: Hier oben ist es schön, hier laßt uns Hütten bauen! Aber ich kann nicht bleiben. Ich muß wieder zurück zu den Städten, den Menschen. Weggehen - aus der Geborgenheit hinaus hin zu denen, denen es dreckig geht. Auch die Jünger müssen zurück in den Alltag, wo der »Teufel los ist«. Aber sie gehen anders zurück, als sie gekommen sind.
     
    Triacastela, 19.00 Uhr
    Abstieg vom Alto do Poio - es sind schöne, aber auch steinige Wege. Das Schienbein meldet sich kräftig, das Knie ein bißchen - die mentale Verfassung zeigt sich körperlich. Es geht nichts mehr.
    So haben wir bereits in Triacastela Halt gemacht - und genießen das schöne Refugio und den halben Tag Auszeit. Ich denke, es ist sinnvoll. Der Körper scheint die Zeit zu brauchen, dann soll er sie auch haben. Und die Beine so zu überanstrengen, daß gar nichts mehr geht, 130 km vor Santiago, wäre auch dumm.
    Inzwischen kultivieren wir es, »gegen den Strom zu schwimmen« - wenn alles an der Dusche ansteht, waschen wir die Wäsche - und bekommen die sonnigen Plätze an der Wäscheleine (der Abstieg zum Wäscheplatz hier im Refugio

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