Die Sehnsucht ist größer
Tagen habe ich ein Einzelzimmer. Auch das hat durchaus seinen Reiz...
Beim ersten längeren Stop heute auf dem Weg - endlich einmal in unserem langersehnten Buswartehäuschen, nach denen wir uns in den letzten Tagen immer gesehnt haben, wenn es regnete - kam plötzlich ein Pilger vorbeigezogen, hielt inne, kam auf mich zu und grüßte mich: »Hallo Andrea, wie geht’s?« Zu meinem großen Erstaunen war es Helmut, den ich am ersten Abend in St-Jean getroffen habe, der so fürchterlich geschnarcht hatte, und den ich vollkommen aus dem Blick verloren hatte. Er fragt uns nach zwei Mitpilgern, die ihm voraus sein müßten und mit denen er geht. Ja, die sind vor einer Viertelstunde hier vorbeigezogen und haben uns angesprochen, sie hätten den camino verloren, wo es denn nun weiterginge. Christiane und ich haben uns ein bißchen ungläubig angeschaut, schließlich sitzen wir grad vor dem Refugio, sind mitten auf dem Weg. Und ob es denn hier irgendwo eine Bar gäbe, ihr Führer sei regensicher im Rucksack verstaut. Ich denk mir nur: Aber auf die Leute vertrauen, die ihren Führer trotz Regen greifbar haben. Na gut - ich verbeiß mir meine bissigen Kommentare und sag nur, daß die nächste Bar in einem Ort 4 Kilometer von hier ist.
In Hospital da Cruz ist der Weg zur Bar erfreulicherweise wieder gut ausgeschildert bzw. richtiger »aufgesprüht«. Vor einer Tür stehen zwei Plastiktische, regennaß. Ein Mädchen weist uns den Weg - 10 Meter weiter ist die Garage zur »Not-Regen-Bar« umgebaut worden. Die Stimmung ist hervorragend. Überall stehen Rucksäcke herum, Regenjacken hängen an Haken, eine Glühbirne hängt von der Decke herunter, wir bekommen Kaffee und Tee, andere ihr Bier, Christiane ihr Bocadillo, dazwischen läuft ein ausgesprochen intelligentes Huhn herum, das die Brosamen aufpickt. Die Frau serviert mit aufgespanntem Regenschirm - kurz, es ist nur gut.
Der Regen hat sich in einen dauerhaften Landregen verwandelt - aber die Wegstrecke von Hospital nach Eirexe läuft sich trotzdem gut. Irgendwann entsteht die Idee, das Refugio in Eirexe anzulaufen und dort eine Teepause einzulegen. Und das paßt. Eine ganz liebe und nette Frau managt dort das Refugio und scheint sich mit uns zu freuen, daß unsere Stimmung trotz des Wetters so hervorragend ist. Christiane ist in ihrem Element: Tee kochen, Brühe machen,... Teebeutel, Bouillonwürfel und Süßstoff haben bislang allen Abspeckungsversuchen des Rucksackes widerstanden - und kommen jetzt endlich, vier Tage vor Santiago, zum Einsatz. Als die Frau, die das Refugio betreut, noch ein Feuer im offenen Kamin anzündet, sehe ich schwarz für unser Weitergehen und bange ein bißchen um den weiteren Aufbruch. Christiane und Feuer, das hat eine ganz eigene Dimension. Um halb fünf brechen wir schließlich auf, noch 7,5 km bis Palas de Rei. Die nette Frau hat uns schon darauf hingewiesen, daß dort im Refugio die Gruppe von sechzig spanischen Jugendlichen untergebracht ist - für uns ein Grund mehr, ins Hotel zu wechseln. Und das nach diesem nassen Tag sowieso.
Die nächste Stunde im Regen läuft prima. Wir haben ein gutes Tempo drauf. Dann, nach ca. 5 Kilmetern, ein Buswartehäuschen. Die Chance soll man nicht vorübergehen lassen. Und kaum haben wir uns dort eingenistet, setzt ein prasselnder Regenguß ein. Wir machen es uns gemütlich, hocken hier ganz trocken und geborgen. Wieder einmal sind wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Als der Regen nachläßt, brechen wir wieder auf. Feldweg oder Straße, das ist die Frage. Die Spritzfontänen der LKWs lassen es uns mit dem Feldweg probieren. Aber der Schlamm läßt uns schnell wieder zur Straße zurückkehren.
Schnell finden wir das Hotel - wir sind froh, daß wir ein Dach über dem Kopf haben und freuen uns auf die warme Dusche.
Christiane und ich gehen arbeitsteilig vor. Sie kauft ein - ich gehe ins Refugio, Stempel holen, nach Bekannten Ausschau halten, eine Nachricht im Gästebuch hinterlassen.
Die Botschaft des heutigen Tages: der lange Atem. Go west -auch wenn die Sonne dir nicht den Weg weist, wenn nur die Pfeile den Weg zeigen...
Sonntag, 29.6.
Palas de Rei, 9.00 Uhr
Die Wanderschuhe sind noch leicht feucht, alles andere ist über Nacht halbwegs getrocknet. Christiane beschreibt das Wetter als »Ton in Ton«. Das ist eine nette Umschreibung, zumindest regnet es im Moment mal nicht. Die Bluse müffelt ein bißchen vor sich hin - aber bei dieser Luftfeuchtigkeit zu waschen, wäre vollkommen
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