Die Sehnsucht ist größer
Nieselregen gehen wir los. In der Kurve steht noch der Krankenwagen, und die Ärzte kümmern sich um den verletzten Radfahrer. Mitten in meiner Freude holt mich eine andere Wirklichkeit ein - und meine Hilflosigkeit. Ich kann nur ein Stoßgebet gen Himmel schicken - und leicht bedrückt und schweigend gehen wir beide weiter.
Zwölf Kilometer bis Sarria - angesichts des Regens entscheiden wir uns wiederum für die Straßenvariante und nicht für die Fußgängerstrecke. Bei dem Wetter tut es gut, einfach vor sich hinzustapfen und nicht groß auf den Weg achten zu müssen. Zwischendrin regnet es kräftiger, und wenn die Lastwagenfahrer nicht gescheit Abstand halten, dann werden wir ziemlich naßgespritzt. Aber die Wolken, die Landschaft, die uns beide an Irland erinnert, entschädigen für vieles. Wir sind naßgeregnet, verschwitzt - aber ausgesprochen zufrieden.
Sarria ist nicht besonders hübsch, eine ganz normale Einkaufsstadt halt. Da es in den Führern eher negativ beschrieben ist, es hier derzeit kein Refugio gibt, sind wir wohl die einzigen Pilger, die sich hierher »verirrt« haben. Aber wir haben ein schönes Hotel für die Nacht und können die letzten Vorräte für die Strecke bis nach Santiago ergänzen - Fußcreme, Filme, »magic money machine«...
Kurz vor Sarria unterhalten wir uns noch darüber, daß wir froh sind, heute abend mal nicht auf die Suche nach einem Stempel gehen zu müssen - unseren Tagesstempel haben wir in Samos bekommen. Und mein Pilgerausweis ist eh schon voll -die letzten zwei freien Felder will ich mir für Santiago aufheben. Inzwischen laß ich mir ins Pilgertagebuch stempeln.
Die erste Bar in Sarria ist unsere, wir verstauen das Regenzeug, trinken einen Tee, ein Bier und suchen die Hotelliste hervor. Da kommt der Barbesitzer, der sich bisher eher zurückhaltend gezeigt hat, mit Stempel und Stempelkissen - ob wir einen Stempel wollten? Und, es ist kaum zu glauben, in dieser kleinen, unscheinbaren Bar haben sie einen ganz hübschen Stempel. Ich finde es nur spannend - das ist vielleicht auch die Lektion des heutigen Tages: In dem Moment, wo man etwas nicht mehr hinterherjagt, bekommt man es geschenkt. Das scheint für Begegnungen wohl genauso zu gelten wie für Stempel.
Heute haben wir das Einkäufen vor das Duschen gestellt -auch das stimmt so. Ich habe noch ein mittleres Abenteuer vor mir: Ich muß Unterhosen kaufen. Als wir vorhin durch die Stadt gingen, habe ich ein entsprechendes Geschäft entdeckt -und während Christiane noch mit der »magic money machine« beschäftigt ist, wage ich mich schon mal hinein und treffe dort auf zwei Ordensfrauen. Naja, dann kann das ja wohl nicht so falsch sein. Ich oute mich relativ schnell als nicht-spanisch-sprechend - und bekomme damit die besondere Aufmerksamkeit der Ladenbesitzerin und der beiden Ordensfrauen, die sich rührend um mich bemühen. Nach einer ersten Fehleinschätzung, als man mir Männerunterhosen vorlegte, bemüht man sich dann um das genaue Gegenteil - Spitzenunterwäsche. Das aber ist nicht gerade das, was ich mir für das Wandern auf dem camino vorstelle - ich dachte eigentlich an ganz einfache Baumwollunterhosen. Mit Mühe kämpfe ich mich durch den Berg von Spitzenunterwäsche durch, irgendwo war doch was gewesen, was ich mir zumindest halbwegs vorstellen konnte. Inzwischen ist Christiane hereingekommen und amüsiert sich köstlich über mein verzweifeltes Gesicht, weil ich ans nächste Refugio denke, und die deutliche Freude der beiden Ordensfrauen, die mir lustvollst die Unterhosen entgegenhalten, dazwischen die Geschäftsinhaberin. Wann mögen die beiden Ordensfrauen wohl das letztemal so interessiert und dazu aus einem guten Zweck heraus, Spitzenunterwäsche inspiziert haben? Schließlich einigen wir uns auf zwei Exemplare, die mir passend und angemessen zu sein scheinen - und scheiden mit einer längeren Geschichte der Inhaberin, die über ihre Arbeit bei den Deutschen irgendwann im Zweiten Weltkrieg oder davor erzählt, so ganz habe ich es nicht verstanden. Solche Geschichten bekommen wir hier häufiger mit - auch wenn wir sie manchmal eher nur erahnen. Grundsätzlich wird uns als Deutschen viel Wohlwollen entgegengebracht - immer wieder erzählt jemand, daß er in Deutschland gearbeitet hat, daß ein Sohn oder eine Tochter dort wohnt,...
Das war ein echter camino-Tag heute. Und seine Lektion heißt wohl: Die Überraschungen des camino sind nicht zu Ende, bevor Santiago erreicht ist. Abschied kann ich dann und
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