Die Sehnsucht Meines Bruders
kennenlernte, bekam ich nach und nach den Eindruck, dass er mich gar nicht richtig wahr nahm. Er versuchte nicht wirklich, mich kennenzulernen. Mein Anblick damals in London, als ich ihm die Uhr klaute, weckte irgend etwas in ihm. Mein Anblick, verstehst du? Nicht etwa ich selbst. Mich selbst sah er gar nicht. Er hatte einen Eindruck von mir, spann ihn zu einem ganzen Menschen weiter, und diesen Menschen seiner Phantasie liebte er. Projizierte ihn auf mich.
Als du weg warst, kümmerte er sich fast nur noch um mich. Seine Geschäfte ließ er schleifen oder delegierte soviel wie möglich. Ich habe nie um etwas gebeten, aber er erfüllte mir alle nur denkbaren Wünsche. Ohne dass ich ... verstehst du, ohne dass mein im Grunde sehr genügsames Ich diese Wünsche überhaupt gehabt hätte. Er erfüllte die Wünsche seines Phantasiejungen. Er packte mich in Watte, räumte mir alle Schwierigkeiten aus dem Weg, noch bevor sie entstanden. Schirmte mich von allem ab.
Es war ein zu krasser Gegensatz zu meinem jahrelangen Leben auf der Straße.
Da war ich auf mich allein gestellt, wusste, was ich mir zutrauen konnte. Hier verlor ich jeden Kontakt zu mir selbst, zu meinen Fähigkeiten. Nach und nach kam mir dieses seltsame Leben völlig abgehoben vor, irrational, geradezu kafkaesk, als lebe ich in einem Traum, Roberts Traum.
Und dann kam der Tag, an dem er sah, dass ich schwul war. Geahnt hatte er es wohl immer schon. Inwieweit das seinen Vorstellungen von mir zuwiderlief, kann ich nicht beurteilen. Nun, jedenfalls war da ein wunderschöner Junge in unserer Nachbarschaft, und es dauerte nicht lange, bis wir uns anfreundeten. Irgendwann konnte ich meine Finger nicht bei mir lassen ...
Du weißt, wie man manchmal nebeneinander auf einer Wiese sitzt. Halb auf einer Pobacke auf der Seite, den Oberkörper auf den Arm gestützt. Jedenfalls berührten sich unsere Hände im Gras nicht ganz. Ein Kribbeln ging von seinen Fingern aus, und ich hatte das dringende Bedürfnis, diesen kleinen Zwischenraum zu schließen.
Verstehst du, man liegt da, beobachtet die Leute im Park, ohne jedoch irgend etwas wirklich zu wahrzunehmen, weil man die ganze Zeit an nichts anderes denken kann, als an diese Hände, die zueinander wollen, an diese Haut, die man berühren möchte.
Ich konnte überhaupt nichts dagegen tun, dass sich mein kleiner Finger anpirschte und begann, den seinen zu streicheln. Er zuckte leicht, entzog sich mir aber nicht. Mein Herz hüpfte vor Freude, doch ich blieb vorsichtig. Nur zögernd ging ich weiter, schob meine Hand über die seine und massierte sie schließlich gierig.
Bis dahin hatten wir wie erstarrt weiter geradeaus geschaut, sahen uns nicht an. Nur unsere Hände drückten aus, was wir fühlten. Im nächsten Augenblick lagen wir uns in den Armen und küssten uns. Mitten im Park.“
Er grinste traurig und schüttelte den Kopf. „Wie naiv wir damals waren. Aber ich schweife ab. Auf jeden Fall schien es mir ganz natürlich, ihn mit nach Hause zu bringen. An Mädchen dachte ich nie, immer nur an dich, Ray.“
Er lächelte mich liebevoll an, bevor er weiter sprach. „Und das blieb auch so. Ich schlief mit Christian, doch ich dachte an dich, stellte mir vor, dass du es warst, der mich küsste und mich befriedigte. Wie du schon bemerkt haben dürftest, suche ich mir Typen aus, die dir irgendwie ähnlich sind, in der Statur oder im Ausdruck ... irgend etwas muss mich an dich erinnern, damit ich etwas für ihn empfinde.“
„Das wird ja wohl jetzt aufhören,“ versuchte ich ihn zu necken, doch er reagierte kaum, lächelte nur müde. Langsam machte ich mir wirklich sorgen, wo diese Erzählung hinführte.
„Nun, jedenfalls nahm ich ihn mit auf mein Zimmer. Robert sagte zu all dem nichts. Er lud Chris sogar zum Essen ein, ging mit uns einkaufen oder schwamm mit uns zusammen im Pool. Bis Christian zum ständigen Gast in unserem Hause wurde. Damals war ich nicht überrascht, denn für mich war schwul sein ganz natürlich, weshalb sollte es für Robert anders sein?
Doch später wurde mir klar, dass er ungeheuer eifersüchtig auf Chris gewesen sein muss. Schließlich verlor er an ihn einen großen Teil seiner Macht über mich. Wahrscheinlich zog er ihn deshalb mit in unseren privaten Kreis, denn dadurch standen wir jetzt beide unter seinem Einfluss. Vielleicht hasste er Christian sogar. Vielleicht machte gerade der Hass die Dinge dann so unvermeidlich.“
Er beugte sich vor, nahm einen kleinen Stein auf und warf ihn in den Bach. Sah
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