Die Seidenbaronin (German Edition)
den allgemeinen Aufruhr zu nutzen, um sich klammheimlich davonzustehlen.
Während sie hastig dem Ausgang zustrebte, spürte sie, wie eine kräftige Hand ihren Arm packte. Sie blieb stehen und drehte sich um. Vor ihr stand Graf Gondern.
«Verzeihen Sie, mein Fräulein, falls ich ein wenig grob war», sagte er. «Aber es machte den Eindruck, als hätten Sie es eilig, und ich befürchtete, dass Sie mir entwischen könnten.»
Paulina starrte ihn überrascht an. «Wären Sie darüber nicht im Gegenteil froh?»
«Was ich denke, ist in diesem Fall nicht von Belang. Ich habe Ihnen eine Nachricht der Gräfin Bahro zu überbringen. Die gnädige Frau wurde zu einer vertraulichen Unterredung mit Ihrer Hoheit Prinzessin Marie gebeten. Ihre Großtante lässt Ihnen ausrichten, dass Sie hier auf sie warten möchten.»
«Das werde ich ganz gewiss nicht tun!», entgegnete Paulina schroff. «Keine zehn Pferde werden mich länger in diesem Haus halten.»
«Vielleicht keine zehn Pferde, Mademoiselle, aber dafür werden Sie es mit meiner Wenigkeit aufnehmen müssen! Ich habe Anweisung, so lange auf Sie aufzupassen, bis die Frau Gräfin zurückkehrt.» Den letzten Satz sagte der Graf mit einem Nachdruck, der keinen Zweifel daran ließ, dass er in Ausübung seines Befehls nötigenfalls auch Gewalt anwenden würde.
Paulina blieb nichts anderes übrig, als zusammen mit Graf Gondern auf ihre Großtante zu warten. Sie würde also um eine Standpauke nicht herumkommen. Seufzend ließ sie sich auf einen Stuhl fallen.
Als die Gräfin endlich in heller Aufregung auf sie zustürmte, war Paulina auf das Schlimmste gefasst. Doch der Gesichtsausdruck ihrer Großtante war weniger unheilverkündend, als sie es erwartet hatte.
«Kleine Teufelin!», rief Frau von Bahro. «Du hast mich heute eine Menge Nerven gekostet, mein Kind! Ich komme mir vor, als sei ich um Jahre gealtert. Man stelle sich vor, was geschehen ist! Als ich mich bei meiner alten Freundin Prinzessin George für dein unmögliches Benehmen entschuldigen wollte, hat mir Ihre Hoheit lauter Komplimente über dich gemacht! Sie nannte dich eine erfrischende kleine Person, die der verlogenen Hofgesellschaft endlich einmal den Marsch geblasen habe. Was soll man dazu sagen? Aber das Beste kommt erst noch. Ich weiß ja nicht, was du mit der landgräflichen Familie angestellt hast, aber mir scheint es fast so, als hättest du sie verhext. Therese, die älteste Enkelin der Prinzessin, hat solchen Gefallen an dir gefunden, dass sie dich näher kennenlernen möchte.» In einer theatralischen Geste breitete die Gräfin ihre Arme aus. «Wenn ich es nicht selbst gehört hätte, würde ich es nicht glauben! Prinzessin George hat mir ein Hofamt für dich angeboten. Therese wünscht, dass du ihre Gesellschafterin wirst.»
Kapitel 5
Paulina stand am Fenster der kleinen Kammer und schaute auf die enge Straße hinunter, die sich wie ein düsterer, unheimlicher Schlund zwischen den Häusern hindurchzog. Sie hatte ein wenig frische Luft hereingelassen, um den unangenehmen Geruch nach Krankheit und Elend zu vertreiben, der ihr beim Betreten des Raumes entgegengeschlagen war.
Unten auf der Straße näherte sich eine torkelnde Gestalt. Bei ihrem jammervollen Anblick wusste Paulina sofort, dass es sich nur um ihren Onkel Alexander handeln konnte.
Kurz bevor er das Haus der Dornfelds erreichte, stolperte der junge Mann über einen Stein, und in dem Bemühen, einen Sturz zu verhindern, riss er den Kopf hoch und sah Paulina oben am Fenster stehen. Er schwankte noch ein paarmal hin und her und machte dann eine unbeholfene Verbeugung, die ihn fast das Gleichgewicht verlieren ließ.
«Meinen Glü-Glückwunsch, liebe Nichte! Ist es wahr, was man sich erzählt? Ich habe zwar geahnt, dass du das Zeug zur Intrigantin hast, aber dass du dich schon jetzt als so geschickt erweist …»
«Sie sind der erbärmlichste Mensch, den ich kenne!», antwortete Paulina in verächtlichem Ton.
Alexander stieß ein hässliches Lachen aus. «Mir scheint, du bist wirklich gut vor-vorbereitet auf deine neuen gesellschaftlichen Verpflichtungen. Ich zweifle nicht daran, dass du äußerst … er-erfolgreich sein wirst. Als ich in deinem Alter war, hatte ich auch das Vergnügen, bei Hof zu verkehren. Es war sehr amüsant, glaub mir!»
Er begann wieder zu schwanken. «Und jetzt entschuldige mich, holdes Fräulein. Ich muss meinen Körper dringend in eine horizontale Po-Position bringen, sonst falle ich auf der Stelle um!»
In den
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