Die Seidenbaronin (German Edition)
Paulina und kämpfte gegen eine plötzlich aufkeimende Wut an. «Ich kann mich nicht an einen Menschen binden, der nicht mehr in dieser Welt leben will. Weißt du eigentlich, was du mir antust? Kannst du mir nicht irgendwie zu verstehen geben, dass du mich gehen lässt?»
Paulina merkte, dass die Hand ihrer Mutter zuckte. Sie hörte ihre eigene Stimme im Raum verhallen. Den letzten Satz hatte sie laut ausgesprochen, ja, sie hatte ihn fast herausgeschrien.
Sie hob den Kopf, voller Hoffnung, dass ihre Mutter aus ihrer Lethargie erwacht wäre. Doch weder in der Haltung noch in den Gesichtszügen der Kranken war auch nur die kleinste Veränderung zu entdecken.
Brüsk ließ Paulina Sophies Hand los und stand auf. Sie hatte auf einmal das Gefühl zu ersticken, stürzte zum Fenster, riss es auf und atmete gierig die frische, feuchte Herbstluft ein. Minutenlang verharrte sie so, bis sie merkte, dass ihre Anspannung sich langsam löste.
Ein Jüngling kam mit eiligen Schritten und gesenktem Kopf die Gasse entlang. Er trug einen großen Korb, der ihm schwer am Arm hing. Paulina sah, wie er auf das Dornfeld’sche Haus zuging und zaghaft den Türklopfer betätigte. War das nicht der älteste von Rosas Enkelsöhnen, den sie mit Essen für Anna zum Haus der Rosiger geschickt hatten? Sie wollte gerade etwas zu dem Jungen hinunterrufen, als sie Roberts Stimme hörte.
«Was schleppst du den Korb mitsamt seinem Inhalt hierher zurück, Dummkopf! Du solltest das Essen dem gnädigen Fräulein bringen.»
«Das hätte ich gerne getan», antwortete der Junge zerknirscht. «Aber diese schreckliche Frau, in deren Haus das gnädige Fräulein sein soll, hat mich beschimpft und fortgejagt. Sie hat geschrien, das gnädige Fräulein sei mitsamt seinem Balg bei Nacht und Nebel verschwunden. Und das nach allem, was sie für das gnädige Fräulein getan habe. Und meiner Herrschaft solle ich gefälligst ausrichten, dass sie den Namen Dornfeld nie mehr hören will.»
Paulina sah den Jungen in der Tür verschwinden. Sie stand da wie vor den Kopf geschlagen. Anna hatte das Haus der Rosiger verlassen – krank und mit einem wenige Tage alten Säugling? Warum hatte sie eine derartige Dummheit begangen?
Entschlossen drehte Paulina sich um und trat neben ihre Mutter.
«Ich werde fortgehen», sagte sie laut. «Es würde mir leichter fallen, wenn ich wüsste, dass du einverstanden bist.»
Als sie vor dem Lehnstuhl stand, sah sie, dass in die vorher so angespannten Züge ihrer Mutter Friede eingekehrt war. Sophies Blick, der noch immer ins Leere ging, war verschleiert. Eine einzelne Träne rollte langsam ihre Wange hinunter.
Kapitel 6
«Ihre Hoheit wird gleich kommen», sagte der Diener zu Paulina. «Wenn Sie hier bitte so lange warten wollen.»
Als er gegangen war, sah Paulina sich in dem großen, hellen Raum um, in den man sie nach ihrer Ankunft im Palais der Prinzessin George geführt hatte. Hohe Fenster gingen auf den Marktplatz von Darmstadt hinaus. Dort herrschte um diese Zeit ein reges Treiben. Kutschen fuhren vorbei, elegante Herrschaften spazierten über das Pflaster, in angeregte Unterhaltungen vertieft. Paulina stellte sich vor, wie es wäre, jeden Tag dieses wunderbare Bild betrachten zu können. Vielleicht würde sie sogar bald selbst einer dieser sorglosen Menschen sein, die so majestätisch über den Platz flanierten.
Aber was wäre, wenn der Wunsch von Prinzessin Therese nur eine Laune gewesen war?
Paulina wurde nervös und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Zwischen Vitrinen und Familienporträts entdeckte sie eine Tür, die nur angelehnt war. Sie hatte schon immer Mühe gehabt, ihre Neugierde zu zügeln, und konnte dem Verlangen nicht widerstehen, einen Blick in die dahinterliegenden Räumlichkeiten zu werfen. Vorsichtig spähte sie in ein kleines Durchgangszimmer, an das sich ein weiterer Raum anschloss. Dort brannte im Kamin ein behagliches Feuer. Auf einem Wollteppich lag ein kleines Hündchen, das sich von einer Seite auf die andere rollte. Im Hintergrund war das Klappern von Porzellan zu hören. Paulina wollte sich schon zurückziehen, als sie plötzlich eine weibliche Stimme vernahm.
«Sie überschätzen meine Macht, Madame!» Es war Prinzessin George, die da sprach. «Ich bemühe mich zwar, den Hof von Hessen-Darmstadt so gut wie möglich zu vertreten, aber meine Mittel sind begrenzt. Letztendlich tue ich es für meine Enkelinnen. Ich habe hier schließlich drei junge Damen, die es zu verheiraten gilt, und glauben
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