Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Seidenbaronin (German Edition)

Die Seidenbaronin (German Edition)

Titel: Die Seidenbaronin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Rauen
Vom Netzwerk:
angrenzenden Häusern gingen einige Fenster auf, und kopfschüttelnd sahen die Nachbarn Alexander dabei zu, wie er versuchte, mit seinem Schlüssel das Türschloss zu treffen.
    Paulina seufzte und schloss das Fenster. Sie drehte sich zu einem Lehnstuhl um, der zusammen mit einem Alkoven und einem Nachttisch die spärliche Möblierung der Kammer bildete. In eine Decke gehüllt, saß dort eine zerbrechlich wirkende Frau mit durchscheinender Haut, deren knochige Arme auf ihren Beinen ruhten. Sie starrte mit großen, ausdruckslosen Augen ins Leere.
    Paulina kniete vor dem Lehnstuhl nieder. Sie nahm die Hand der Frau und streichelte sie sanft.
    «Was ist dir passiert, Mutter?», fragte sie mit zärtlicher Stimme. «Was hat dich so erschreckt, dass du das Leben nicht mehr erträgst?»
    Die Frau in dem Stuhl saß da wie versteinert. Ihr Gesichtsausdruck wirkte so angestrengt, als lastete eine bleischwere Bürde auf ihr.
    «Erinnerst du dich an die Gräfin Bahro?», fuhr Paulina fort. «Du warst ihr doch immer sehr verbunden. Sie war hier im Haus, stell dir vor! Sie kam einfach hereinspaziert, als wir zu Abend aßen. Großvater ist fast der Weinhumpen aus der Hand gefallen. Und weißt du, was? Die Gräfin ist meinetwegen gekommen! Sie wollte mich als Ehrendame haben für einen Empfang im Palais von Prinzessin George. Ich war dort – im Palais. Es war ein wunderschöner Empfang. Die Menschen waren sehr freundlich zu mir. Ich saß am Tisch mit den Prinzessinnen aus Mecklenburg, weißt du, die Kinder der verstorbenen Herzogin. Sie mochten mich sofort, und nun wünschen sie, dass ich ihre Gesellschafterin werde.»
    Paulina sah die Frau im Lehnstuhl erwartungsvoll an, doch die Kranke zeigte nicht die geringste Regung.
    «Ich werde aus diesem Haus fortgehen, Mutter. Prinzessin George möchte, dass ich in ihrem Palais wohne. Nicht einmal die Tatsache, dass ich die Enkelin des Barons Dornfeld bin, hat sie abgeschreckt. Niemand soll für die Verfehlungen seiner Familie büßen, hat sie gesagt. Noch heute erwartet man mich. Aber keine Sorge, ich werde dich, so oft es möglich ist, besuchen kommen.» Sie beugte sich noch näher zu ihrer Mutter hin. «Weißt du eigentlich, dass ich mein Hofamt der Tatsache verdanke, dass ich dich vor den Verleumdungen der Höflinge verteidigt habe?»
    Paulina streichelte weiterhin wie mechanisch die Hand der Kranken. Fieberhaft versuchte sie, in den Zügen ihrer Mutter eine Spur von Anteilnahme zu entdecken. Aber diese geisterhafte Frau mit der starren Maske einer Toten, die irgendwann einmal Sophie von Gralitz gewesen war, wirkte wie lebendig begraben.
    Resigniert legte Paulina ihren Kopf auf die Lehne des Stuhls.
    Sie hatte drei schreckliche Tage hinter sich. Nachdem die Gräfin Bahro sie nach jenem denkwürdigen Empfang im Palais der Prinzessin George nach Hause gebracht hatte, waren dem jungen Mädchen plötzlich Zweifel an der eigenen Courage gekommen. Gesellschafterin bei Prinzessin Therese – war sie dieser Aufgabe überhaupt gewachsen?
    Die Reaktionen zu Hause waren auch nicht gerade dazu angetan gewesen, ihre düstere Stimmung zu vertreiben. Der Baron hatte die Neuigkeit mit versteinertem Gesichtsausdruck zur Kenntnis genommen und sich dann in seinem Zimmer eingeschlossen. Frau von Herben missgönnte Paulina den Erfolg zutiefst. Und Frau von Engelen freute sich zwar für ihren Schützling, aber – und das wurde Paulina erst jetzt bewusst – sie tat das mit einem weinenden Auge: Das Hofamt des jungen Mädchens bedeutete für die Erzieherin das Ende ihrer Dienste bei den Dornfelds.
    Drei Tage vergingen ohne Nachricht, weder von der Prinzessin noch von der Gräfin Bahro. Paulina glaubte schon, einem fatalen Irrtum erlegen zu sein, als Robert am Morgen des vierten Tages einen Boten der Prinzessin meldete. Der Mann brachte einen Brief Ihrer Hoheit, in dem sie Paulina aufforderte, am nächsten Tag im Palais vorzusprechen.
    Nach anfänglicher Freude überfielen Paulina plötzlich schreckliche Gewissensbisse. Konnte sie ihre kranke Mutter in der vergifteten Atmosphäre des Hauses zurücklassen, der Griesgrämigkeit des alten Barons und den Launen der schrecklichen Frau von Herben ausgeliefert? Paulina verbrachte eine schlaflose Nacht, in deren Verlauf sich ihre Gedanken zu einem bedrohlichen Berg von Zweifeln und Schuldgefühlen auftürmten. Als die Dämmerung endlich den erlösenden Morgen ankündigte, schlich sie sich in das Zimmer ihrer Mutter.
    «Ich muss mich von dir losmachen», murmelte

Weitere Kostenlose Bücher